Alles was ich sage ist wahr
ausladenden Geste auf den Flur, damit sie das gesamte Ausmaß meiner Gewissenhaftigkeit erfasst.
»Und das Bett habe ich auch gemacht, meine Kleider zusammengelegt und dir bei dem Kreuzworträtsel geholfen, wo du festgesteckt hast. Und jetzt werde ich in die Küche gehen und dir einen Tee kochen. Es gibt sozusagen keine Grenzen. Gib’s zu, du bist froh, mich als Mitbewohnerin zu haben, stimmt’s?«
Oma lacht.
»Sehr, oberfroh!«, sagt sie. »Hauptsache, du denkst dran, die Milch wieder in den Kühlschrank zu stellen.«
* * *
Am Wochenende kommen Mama, Papa und Olle im Café vorbei. Ich gebe Olle die größte Hefeschnecke und lasse ihn den Sprudel selbst am Automaten einschenken.
»Kann ich zwei Sorten mischen?«
Er kann vor Aufregung nicht still stehen.
»Klar«, sage ich.
»Auch alle?«
»Jepp!«
Als er sich an den Tisch setzt, ist sein Glas bis zum Rand voll mit einer gelbbraunen Brühe, und er kichert glücklich, als er den ersten Schluck abschlürft, damit nichts überschwappt. Ich beobachte Papa. Er sagt nichts, weder zur Hefeschnecke noch zur Brause, was ich ihm hoch anrechne. Ich weiß, was er über Zuckerplörre für Kinder denkt.
»Schön, dich zu sehen, Schatz!«
Er nimmt mich fest in den Arm.
»Du fehlst uns.«
Ich bezweifle, dass das stimmt, aber ich habe mir vorgenommen, nicht zu streiten, also sage ich nichts.
»Hat Oma erzählt, wie exemplarisch ich mich aufführe?«, frage ich stattdessen.
Mama nickt.
»Sie sagt, dass sie überhaupt nicht versteht, wieso wir uns so oft streiten. Wo du doch so umgänglich bist.«
Stimmt, denke ich. Das habe ich auch nie verstanden. Aber auch das sage ich nicht, weil ich nicht nur eine exemplarische Mitbewohnerin bin, sondern verdammt noch mal auch eine exemplarische Tochter.
»Sie sagt, dass du sogar deine Schuhe aufs Schuhbord stellst, wenn du nach Hause kommst. Wahrscheinlich hast du dir den Kopf ganz heftig irgendwo angeschlagen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe, aber keine Sorge, das werde ich ihr nicht sagen. Gut schaust du übrigens aus.«
Ich nicke energisch. »Mir geht’s auch gut.«
»Und der Job läuft so weit?«
»Ja.«
»Und du vermisst die Schule nicht?«
»Ganz bestimmt nicht.«
Olle schaut von seinem Glas auf. An seiner einen Wange kleben Zuckerstreusel von der Hefeschnecke.
»Und uns?«, fragt er. »Vermisst du uns?«
Und in dem Augenblick tue ich das ganz schrecklich, aber das sage ich auch nicht, wo kämen wir da hin? Ich beuge mich vor und küsse die Zuckerstreusel von seiner Wange, damit er es weiß.
Eine meiner klarsten Erinnerungen ist der Moment, an dem Mama und Papa mir erzählt haben, dass ich ein Geschwisterchen bekomme. Wir hatten gerade gegessen und saßen im Wohnzimmer vorm Fernseher, und es war Winter und schweinekalt und Mama sah, warum auch immer, schrecklich nervös aus.
»Alicia«, sagte sie. »Wir müssen dir was Schönes erzählen.«
»Was?«, fragte ich und hüpfte auf dem Sofa auf und ab. »Krieg ich jetzt endlich einen Hund?«
Ich weiß noch genau, wie ich mich in dem Augenblick gefühlt habe. Ich wünschte mir bestimmt schon seit einem halben Jahr erfolglos einen Hund, und jetzt, plötzlich, ohne Vorwarnung, gaben sie nach! Am Ende hatte Alicia doch gesiegt, weil sie nicht so schnell aufgab, und so weiter und so fort. Der Triumph breitete sich im Körper aus wie Brausepulver und explodierte fast in meinem Kopf.
»Nein.« Papa seufzte. »Du kriegst keinen Hund. Du kriegst ein Geschwisterchen.«
Mein Herz: POH!
Und mein Mund: »HÄ? Wozu soll das denn gut sein?«
Als Olle ein halbes Jahr später geboren wurde, war ich immer noch skeptisch. Was konnte dieser kleine, schrumpelige Schreihals unserer Familie schon bieten? Voll gekackte Windeln? Ohne die ging’s uns bestimmt besser. Auch ohne ihn?
Ich kapitulierte erst, als Olle ungefähr ein Jahr alt war und auf seinen krummen Wurstbeinen wie ein Trunkenbold durch die Wohnung torkelte und sich tausendmal den Kopf stieß und seine Ärmchen nach mir ausstreckte, wenn er traurig war. Und ich kapitulierte wirklich völlig. Kein Hund auf der ganzen Welt hätte sich mit dieser Rotzgöre messen können. Ehrlich, manchmal würde ich am liebsten in ihn reinbeißen, weil ich vor lauter Mögen gar nicht weiß, wohin.
Wehe, es rührt ihn einer an, dann schreie ich!
* * *
»Hier verbringst du also deine Zeit«, sagt Fanny, als wir mit dem Umarmen fertig sind. Sie schielt auf meine Schürze. Sie hat Agnes und Johan aus der Klasse im Schlepptau und
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