Alles was ich sage ist wahr
Flur komme, und ich beeile mich, ihr die Sachlage zu erklären, ehe ihr süßer, kleiner Kopf die falschen Schlüsse zieht.
»Ich ziehe wieder zu Oma«, sage ich, »sobald sie aus dem Krankenhaus entlassen wird.«
»Das freut mich!«, sagt Mama.
Das freut sie? Wie meint sie das denn? Ich bin enttäuscht, hatte was erwartet in der Art wie: »Ach nein, du willst doch nicht wieder ausziehen, wo du endlich wieder zu Hause bist? Es wäre so schön, dich für immer bei uns zu haben. Du bist das Licht in unserem Leben, Alicia. Unser Herzstück, unser Salz in der Suppe, der Mittelpunkt der Erde und das Wichtigste im Leben. Bleib doch bei uns!« Aber stattdessen schleudert sie mir ins Gesicht: »Das freut mich!« Aha. Da kann man mal sehen!
»Ja«, sage ich trotzig. »Mich auch!«
Mama lacht.
»Jetzt sei nicht gleich beleidigt, Schatz. Ich will damit nur sagen, dass ich es gut finde, wenn jemand bei Oma ist, wenn sie nach Hause kommt.«
Ich verstehe nicht ganz, wie sie das meint, aber Mama redet weiter, ehe ich danach fragen kann.
»Sie wird am Anfang jede Hilfe gebrauchen können«, sagt sie. »Ich nehme ja mal an, dass sie sich nur eingeschränkt bewegen kann. Außerdem finde ich es beruhigend, dich bei ihr zu wissen. Dass du ein Auge auf sie hast. Damit sie nicht noch mal fällt.«
Ich schlucke.
»Wieso soll sie sich nur eingeschränkt bewegen können?«, frage ich und schlucke das Hilfe brauchen? Auge auf sie haben? AUFPASSEN, DASS SIE NICHT NOCH MAL FÄLLT? vorerst runter.
»Davon gehe ich aus«, sagt Mama. »Sie ist über achtzig und hat den Oberschenkelknochen gebrochen. Davon erholt man sich nicht in ein paar Tagen.«
Ich suche nach einer schlagfertigen Entgegnung, aber mir fällt nichts ein. Das alles sind neue Informationen für mich. Ich weiß nicht recht, was ich erwartet habe, wahrscheinlich so was in der Art wie: Oma bricht sich das Bein, verbringt eine Woche im Krankenhaus und danach: back to normal. Nicht: Oma bricht sich das Bein, verbringt eine Woche im Krankenhaus und danach: Alicia wird ihre persönliche Pflegerin.
Ich grübele eine Weile über die Sache mit der persönlichen Pflegerin nach. Muss ich ihr da auch beim Gang auf die Toilette behilflich sein? Ihr den Hintern abwischen? Fanny hat letzten Sommer in einem Pflegeheim gejobbt, da gehörte so was dazu. Hintern abwischen. Nicht den meiner Oma, aber eine Menge andere Hintern. Sie meinte, es wäre gar nicht so schlimm, wie man es sich immer vorstellt. Am Ende denkt man nicht mehr immer nur Hintern, Kacke, Hintern, Kacke, Hintern, Kacke, man denkt an nichts mehr. Man macht es einfach. Mal ehrlich, ich weiß nicht, ob ich ihr das abkaufe. Kann man sich an so was echt gewöhnen? Ich bleibe skeptisch.
»Wie lange, glaubst du …«
Mama schüttelt den Kopf.
»Keine Ahnung«, sagt sie. »Aber die im Krankenhaus wissen sicher, wie lange so etwas dauert. Wir müssen sie fragen, wenn wir das nächste Mal dort sind.«
»Hm.«
Ich nehme einen Apfel aus der Schale und kaue leicht gestresst auf dem Bissen herum, um meine Gedanken zu zerstreuen. Das Ganze hat was Beunruhigendes. Besonders die Bemerkung, dass ich aufpassen soll, dass sie nicht noch einmal stürzt, macht mich nervös. Wie soll das gehen? Erwartet Mama, dass ich die ganze Zeit in Omas Nähe bin und jeden Schritt bewache, den sie macht? Das wird schwer, wenn ich gleichzeitig jobbe, denke ich. Soll ich eine Überwachungskamera installieren, damit ich bei der Arbeit sehen kann, was Oma macht? Zu teuer! Und suboptimal. Und was ist, wenn Oma trotzdem stürzt, obwohl ich sie wie ein Falke im Auge behalte? Bin ich dann schuld? Ich hasse es, schuld an irgendwas zu sein!
Meine Gedanken rotieren wie ein Hamsterrad, rund, rund, immer im Kreis. Nach etwa dem halben Apfel rotiert es derart hinter meiner Stirn, dass ich aggressiv werde. Das ist nicht gerecht!, schreit es in mir.
»Und wenn Oma noch mal fällt und sich das andere Bein bricht, dann bin ICH schuld, oder was?«
Ich habe mich zu Mama umgedreht und schreie fast.
Sie ist völlig unvorbereitet auf den Angriff.
»Mein Gott«, sagt sie. »Beruhig dich wieder!«
Aber das habe ich nicht vor.
»Wie soll ich denn die ganze Zeit auf sie aufpassen? Ich habe schon einen Job! Ich will keine persönliche Assistentin werden! UND ICH FINDE ES EKELIG, ANDEREN DEN HINTERN ABZUWISCHEN!«
Mama seufzt.
»Alicia. Jetzt beruhig dich doch. Ich meinte nicht …«
»Hast du wohl! Du hast es gesagt!«
»Ja, aber …«
»Du hast gesagt, dass es dich
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