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Alles was ich sage ist wahr

Alles was ich sage ist wahr

Titel: Alles was ich sage ist wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Bjaerbo
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Jahre alt war, habe ich mir zu Weihnachten ein Fahrrad gewünscht. Ein grünes mit Gepäckträger und Klingel. Auf dem Gepäckträger wollte ich abwechselnd meinen roten Koffer und meinen gigantischen Plüschelefanten transportieren. Das war schon lange beschlossene Sache.
    »Und wo soll ich sitzen?«, hatte Oma gefragt, als alle Geschenke ausgepackt waren und ich mit meinem grünen Fahrrad an der Haustür stand und so schnell wie möglich Radfahren lernen wollte. »Wo soll ich sitzen, wenn du durch die Weltgeschichte radelst?«
    »Ach«, soll ich darauf geantwortet haben. »Du kannst doch nebenherlaufen und aufpassen, dass ich nicht umfalle.«
    * * *
    Am nächsten Morgen scheint die Sonne. Das Licht blendet mich. Es ist ungewohnt, aber sehr willkommen. Die Welt sieht gleich viel freundlicher aus als im Oktobergrau. Die Hauswände strahlen regelrecht, als ich durch die Stadt fahre, rosa, gelb, grün, wie Süßigkeiten. Vorher sahen sie einfach nur trist aus.
    Ich rase gerade ein Gefälle hinunter, als mein Handy klingelt, und eiere bedrohlich, als ich es aus der Tasche zu fischen versuche, um zu antworten. Es ist Papa. Was soll das? Wir haben uns doch gerade noch am Frühstückstisch gesehen! Was kann seitdem passiert sein, das so wichtig ist, dass ich dafür fast mein Leben riskiere?
    »Alicia«, sagt er.
    Glaube ich jedenfalls. Ich höre kaum was, weil der Fahrtwind so laut bläst.
    »Was?«
    Er murmelt etwas Unverständliches am anderen Ende.
    »ICH HÖR NICHTS! DER WIND IST SO LAUT!«
    Murmel, murmel.
    »Was?«
    Da ruft Papa. Ich verstehe nicht alles, aber einzelne Wortfetzen finden ihren Weg durch den Wind. »Stehen bleiben« zum Beispiel und »wichtig«. Ich bremse genervt und steige ab. So was Unnötiges! Mit dem Schwung vom Gefälle kann man fast bis zum Café rollen. Das kann ich jetzt natürlich vergessen.
    »Was ist denn los?«, fauche ich ins Telefon. Ich hoffe, dass das, was er auf dem Herzen hat, wirklich wichtig ist.
    Papa holt tief Luft.
    »Alicia«, sagt er dann. »Ich habe keine guten Nachrichten.«
    Seine Stimme klingt so merkwürdig.
    Das macht mich nervös.
    »Was ist los?«, frage ich noch einmal.
    »Oma.«
    Er macht eine Pause, genau lang genug, dass ich das Atmen einstellen und das Telefon fester aufs Ohr drücken kann.
    »Was ist mit ihr?«, frage ich. »WAS IST MIT OMA?«
    »Sie …«
    Papas Stimme versagt.
    »Sie ist heute Nacht gestorben«, sagt er dann.
    Und die Welt bleibt stehen.

Zwei
      
      
      

Es gibt Augenblicke, die man bis ans Ende seines Lebens nicht vergessen wird. Ob man es will oder nicht. Man weiß, dass man von nun an jedes Mal, wenn man dieses Gefälle passiert, diesen Bürgersteig, diesen Platz, an diesen Augenblick denken wird. Papas Worte werden in meinem Ohr hallen, und jedes Mal, wenn ich sie höre, werde ich das Ziehen im Bauch spüren, das ich in jenem ersten Moment gespürt habe, obwohl ich inzwischen darauf vorbereitet bin, weil es sich schon tausendmal wiederholt hat.
    Oma ist heute Nacht gestorben.
    Das wird nie mehr verblassen.
    * * *
    Ich kann nicht genau sagen, wie, aber ich schaffe es, das Rad zu wenden, es die Steigung hinaufzuschieben und wieder zurück nach Hause zu fahren. Sie sitzen am Küchentisch. Mama ist blass. Sie knetet manisch ihre Hände und schüttelt mit dem Kopf. Papas Hand auf ihrer Schulter. Olle auf seinem Schoß, eingeschüchtert. Er schaut abwechselnd von Mama zu Papa, als hätte er Angst, sie könnten sich in Luft auflösen. Poff, und weg sind sie.
    Ich stehe auf der Türschwelle und sehe sie an. Höre ihre Stummheit. Beobachte ihre Regungslosigkeit. Von hier ist das eine nahezu perfekte Szene. Etwas Schreckliches ist passiert, so viel ist zu erkennen, aber solange sie nichts sagen, weiß man nicht genau, was.
    Ich würde gern die Pausetaste drücken.
    Und auf die Fortsetzung verzichten.
    Einfach nur dastehen, festgefroren, bis der Nachspann über den Bildschirm rollt.
    Aber als ich die Tränen auf Mamas Wangen sehe, funktioniert das nicht länger. Ich werde von unsichtbaren Händen in die Küche geschoben und lande wie ein Zementsack neben Mama auf dem Boden.
    Drücke mein Gesicht auf ihren Schoß.
    Fühle ihre Hände auf meinem Haar.
    Höre sie nach Luft schnappen.
    »Alicia, mein Schatz«, sagt sie. »Was sollen wir nur ohne sie machen?«
    * * *
    Im Krankenhaus sagen sie uns, Oma hätte nachts einen Blutpfropf in der Lunge gehabt und sei innerhalb weniger Minuten gestorben. So etwas kann nach einer Operation passieren,

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