Alles was ich sage ist wahr
besonders bei älteren Patienten. Die Blutgefäße sind der hohen Beanspruchung nicht gewachsen. Fast alle älteren Leute bekommen blutverdünnende Mittel, ehe sie operiert werden, um genau das zu verhindern, aber nicht bei allen hilft es. So ein Pfropf kann trotzdem entstehen, und wenn dem so ist, kann man kaum etwas dagegen tun. Auch wenn man kurz vorher noch ein paar Schritte gegangen ist und von einem attraktiven Arzt gelobt wurde und Zimtschnecken gegessen hat. Trotzdem kann man sterben. Unfassbar, aber leider wahr.
* * *
Was sollen wir nur ohne sie machen? Ich weiß es nicht, aber ich wünschte, ich könnte wenigstens weinen. Ich liege im Bett, starre an die Decke und wünschte, ich könnte weinen, aber das kann ich nicht. Warum nicht? Bin ich gestört? Meine Oma ist tot, Grund genug, zu weinen, aber offensichtlich habe ich verlernt, wie man traurig ist. Wie immer man so etwas verlernen kann.
Ich stelle mir besonders traurige Situationen vor, um den Prozess in Gang zu bringen. Stimuliere jede noch so kleine Trauerzelle in meinem Körper. Gehe im Geiste alles durch, was sie nie wieder, was ich nie wieder, was wir nie wieder zusammen tun werden, verharre bei jeder Erinnerung, um zu sehen, ob nicht doch ein paar Tränen kommen. Aber nein. Nicht eine einzige Träne. Zwischendurch krieg ich kaum noch Luft und muss die Decke wegschieben, aber ich denke, das zählt nicht richtig. Das sieht kein bisschen traurig aus, das sieht einfach nur aus, als wenn mir zu warm wäre.
Es kommt nicht richtig bei mir an, dass sie für immer weg sein soll. Ich höre, was die anderen über Pfropfe und Lungen und schnellen Verlauf und so weiter sagen, aber ich begreife einfach nicht, was das bedeutet. Weg, sagt ihr? Ach Quatsch, gerade war sie doch noch da! Weit kann sie nicht gekommen sein!
Für mich ist sie immer noch ganz nah.
Ich habe den schwachen Zimtduft noch in der Nase.
Sie ist nicht hier in meinem Zimmer, könnte es aber durchaus sein.
Weiter komme ich nicht, obwohl ich mir wirklich Mühe gebe. Es ist, als würde ich ein ums andere Mal mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Ich bräuchte einen Crashkurs. Hab so was noch nie erlebt. Weiß nicht, was ich machen soll. Wie kapiert man so etwas? Wie überzeugt man sich selbst davon, dass nichts mehr ist wie gestern, dass Oma nicht mehr ein paar Kilometer entfernt in ihrem Krankenhausbett liegt und schläft, dass sie nie mehr aufwachen wird? Dass man das letzte Glas Saft mit ihr in ihrer Küche getrunken, ihr beim letzten Kreuzworträtsel geholfen, das letzte Mal auf ihrem Schlafsofa unter der schweren Decke übernachtet hat?
Mir will einfach nichts Besseres einfallen, als auf meinem Bett zu liegen und an die Decke zu starren.
Also tue ich das.
Ich liege auf meinem Bett und starre an die Decke und wünschte, ich könnte weinen, aber das kann ich nicht.
Was für eine schwachsinnige Beschäftigung.
* * *
»Du, Oma?«
»Ja?«
»Du weißt hoffentlich, dass du niemals sterben darfst.«
»Darf ich nicht?«
»Nein.«
»Aber wenn ich es will? Wenn ich eines Tages merke, dass ich fertig gelebt habe?«
»Nein. Auch dann nicht.«
»Niemals?«
»Niemals!«
»Das wird schwierig werden, Alicia. Die allermeisten Menschen sterben irgendwann, früher oder später.«
»Die allermeisten, ja. Aber du nicht.«
* * *
Papa klopft leise an meine Tür, stellt sich dann ans Fußende meines Bettes. Er sieht müde aus.
»Wir wollen ins Krankenhaus fahren«, sagt er.
»Wieso das denn?«
»Sie haben Oma zurechtgemacht, damit wir sie noch ein letztes Mal sehen können. Um uns zu verabschieden.«
Zurechtgemacht? Ein letztes Mal? Verabschieden?
Papa hört sich an wie eine Infobroschüre.
»Das wäre vielleicht ganz gut«, sagt er ruhig. »Auch wenn die Vorstellung unangenehm ist.«
Wäre es das?
»Deswegen schlage ich vor, dass du mitkommst. Deinetwegen. Aber das entscheidest du natürlich selbst.«
Ich schüttele hektisch den Kopf. Die Vorstellung von Oma, die da liegt, zurechtgemacht, tot und still, macht mich fast panisch. Ich will nicht. Das geht nicht.
»Fahrt ohne mich«, sage ich.
Papa kommt zu mir und setzt sich auf die Bettkante.
»Alicia«, sagt er.
»Nein«, antworte ich schrill und schlage seine tröstende Hand weg. »Ich will nicht!«
Ich höre meinen eigenen Puls in den Ohren pochen. Bestimmt ist das eine der Entscheidungen, die ich für den Rest meines Lebens bereuen werde, aber ich spüre mit jeder Faser meines Körpers, dass es nicht geht. Ich schaffe es nicht,
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