Alles was ich sage ist wahr
da? Isak malt mit seinem Zeigefinger kleine Kringel zwischen meine Knöchel. Seine Fingerkuppe fühlt sich rau an, und ich frage mich, was diese Hände wohl sonst machen.
Es schießen kleine Stromstöße von meinen Knöcheln in meine Arme, und ich muss zugeben, dass mir das gefällt. Es gefällt mir sehr, dass er hier neben mir sitzt, meine Hände hält und mit meinen Fingern spielt, als wäre es das Natürlichste von der Welt, obwohl wir uns kaum kennen. Ich mag seine rauen Fingerkuppen. Mag das Gefühl von seiner Haut auf meiner.
Ohne nachzudenken, drehe ich mein Gesicht nach oben, lege eine Hand um seinen Nacken und drücke meine Lippen ganz sanft auf die Stelle neben seinem Mundwinkel, da, wo die Linie ist, wenn er lacht. Ganz sanft küsse ich die weiche Haut um seinen Mund. Isak sitzt still da, nur seine Zeigefingerkuppe kreiselt weiter über meinen Handrücken. Mit einer winzigen Drehung seines Kopfes könnte er bestimmen, wie es weitergeht, aber das tut er nicht. Er wartet. Mit jedem Ausatmen wird meine Wange ganz warm.
Eine Hundertstelsekunde überlege ich, was ich hier eigentlich tue. Erst flenne ich wie ein Schlosshund und dann … das hier? Wo sind meine Bedenken von gestern geblieben? Wir kennen uns gar nicht. Ich krieg das nicht auf die Reihe. Ich weiß nicht. Will ich das überhaupt?
Dann drehe ich mein Gesicht ein winziges Stück, lande mit meinen Lippen auf seinen und ziehe ihn an mich, näher ran, am liebsten unter die Haut. So einfach ist das.
Und ob ich will!
* * *
Dieses Mal ist es ruhiger. Keine Besenkammer, kein Spülbecken, kein desperates Kleidergezerre und Lippenbeißen, gar nichts Desperates. Auf Omas Flickenteppich als Matratze ziehen wir uns gegenseitig aus, und seine Haut über dem Bauch ist noch weicher, als ich sie in Erinnerung habe.
Ungefähr hier höre ich auf zu denken.
* * *
»Wir sind auf dem Boden gelandet«, sagt Isak nach gefühlten hunderttausend Jahren.
Sein Arm liegt unter meinem Nacken und er spielt mit einer Haarsträhne über meinem Ohr. Ich bin fast eingeschlafen. Vor Omas Küchenfenster ist es schon lange dunkel und wir haben kein Licht angemacht. Von unserem Platz auf dem Boden sieht man die Silhouette eines Baumes vor dem Himmel, sonst nichts.
»Hm«, sage ich schläfrig. »Sind wir wohl.«
Jetzt ist es eindeutig von Vorteil, dass Oma immer alle Heizungen voll aufgedreht hat, weil es sonst sicher ganz schön kalt gewesen wäre, so nackt und ohne Decke auf ihrem Küchenfußboden. Mir ist gar nicht kalt. Es ist richtig mollig. Ich drücke meine Nase an Isaks Haut und atme unseren Duft ein. Wir duften ziemlich gut. Klebrig.
»Passiert dir das öfter?«, fragt Isak. »Dass du mit Menschen, die du kaum kennst, in so einer Situation landest?«
»Nö«, sage ich. »Nicht direkt.«
Isak dreht den Kopf so zur Seite, dass sein Mund in meinem Haar landet.
»Interessant«, murmelt er. »Mir auch nicht. War da vielleicht was im Kaffee?«
Ich gähne.
»Wir haben noch gar keinen Kaffee getrunken.«
»Stimmt. Dann liegt es wohl einfach an uns.«
»Vielleicht.«
Das hört sich so leicht an, wie er das sagt. Als müsste man nicht weiter darüber nachdenken. So ist es eben. Hier bin ich und hier bist du, und offenbar ist da zwischen uns was ganz Spezielles, weil du nackt in meinen Armen liegst. Das muss reichen.
* * *
Irgendwann vor Urzeiten habe ich Oma mal nach Opa gefragt.
»Warum redest du nie über ihn?«, wollte ich wissen.
»Tu ich das nicht?«
»Nein.«
»Hm, kann sein. Ich nehme an … Das ist schon so lange her.«
»Aber wie war er? Als er gelebt hat? War er lieb?«
»Lieb?«, sagte Oma. »Nein, das war er nicht.«
»Aber vermisst du ihn?«
Oma dachte eine Weile nach.
»Nein«, sagte sie schließlich. »Auch nicht. Nicht mehr.«
Ich erinnere mich, dass ich das ziemlich deprimierend fand.
»Ist das nicht der Sinn der Sache?«, fragte ich. »Dass man sich jemanden sucht, den man vermisst, wenn er weg ist?«
* * *
»Du?«
Isaks Stimme klingt sanft.
»Hm.«
»Dass wir uns kaum kennen …«
»Ja?«
»Das kann man ändern. Wenn man will.«
Er bläst vorsichtig Luft in mein Ohr. Das Kitzeln zwingt mich, den Kopf wegzudrehen, und ich gucke ihm tief in die Augen, sehe das Spiegelbild meines eigenen Gesichtes.
»Ich glaube, dass ich das wahrscheinlich will«, sagt er. »Nur, dass du’s weißt.«
* * *
Auf dem Nachhauseweg wirbele ich Laub auf. Total albern. Wer wirbelt schon Laub auf? Kleine Kinder und Schauspieler im Film vielleicht. Ich
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