Alles was ich sage ist wahr
ungefähr einen Millimeter vor seinem linken Fuß.
Er lächelt unsicher.
»Hallo.«
Damit scheinen die Gesprächsthemen erschöpft. Sollen wir uns umarmen? Ich habe keine Ahnung und Isak genauso wenig. Er steht irgendwie abwartend da und verlagert das Gewicht linkisch von einem Fuß auf den anderen. Ich beuge mich über den Fahrradlenker und lege einen Arm in einer Halbumarmung um ihn. Das fühlt sich okay an.
»Was sollen wir machen?«
Isak zuckt mit den Schultern.
»Ich weiß nicht«, sagt er. »Aber vielleicht könnten wir ja irgendwo reingehen, weil’s draußen ziemlich kalt ist?«
Ich nicke. Meinetwegen gerne, es ist nämlich wirklich arschkalt. Ich habe zwar meine wärmste Winterjacke an, eine knallrote Wolljacke von Mama, aus der guten alten Zeit, als sie an der Uni war und noch Stil hatte. Trotzdem finde ich »Drinnen« eine gute Idee.
»Aber nicht ins Kaffee & Träume «, sage ich schnell.
»Nein«, sagt Isak. »Wir suchen uns was anderes.«
* * *
Nach fast einer Stunde haben wir jedes nur erdenkliche Lokal in der Stadt abgeklappert, wo es Kaffee geben könnte, aber alle haben geschlossen. An einem Sonntagnachmittag! Da sollte man doch wohl irgendwo einen Kaffee trinken können? Ist aber nicht so, nicht an den gemütlichen Stellen, jedenfalls. Klar, in der Pizzeria würden wir wohl auch einen Kaffee kriegen, aber überall sonst: nope.
»Shit, ist das kalt«, sag ich zum ich weiß nicht wievielten Mal. Isak nickt. Das war so ziemlich das Einzige, worum es ging, seit wir unterwegs sind: wie kalt es ist und dass die Lokale verdammt geschlossen sind. Kein Thema, das sich großartig ausbauen ließe.
Meine Hände auf dem Lenker sind fast gefühllos.
* * *
Nachdem wir festgestellt haben, dass auch die letzte Alternative auf unserer Liste geschlossen hat, ist uns so kalt, dass wir es ganz aufgegeben haben, miteinander zu reden. Wir stehen auf dem Marktplatz und wissen nicht, wo wir es noch versuchen könnten. In diesem Viertel gibt es nur Wohnhäuser und Schulen und Parkplätze, einen Blumenladen und ein Geschäft, das unter der Woche Hemden für alte Männer verkauft. Ich gucke zu dem vertrauten Haus. Über dem Blumenladen liegt Omas dunkle, leere Wohnung.
»Komm«, sage ich zu Isak.
Ich weiß nicht, wie schlau das ist, aber es ist kalt und wir frieren, und wir haben nichts, wo wir hinkönnen. Isak sieht mich fragend an, als ich mein Rad in dem alten Fahrradständer vor Omas Hauseingang abstelle.
»Wo gehen wir hin?«
»Hier rein.«
Ich gebe den Türcode ein und laufe ganz schnell die Treppe hoch, bevor ich es mir anders überlegen kann. Omas Wohnungsschlüssel hängt immer noch an meinem Schlüsselbund.
»Wer wohnt hier?«, will Isak wissen.
Ich hole Luft.
»Eigentlich niemand«, sage ich. »Jedenfalls nicht mehr.«
* * *
Der Kaffee steht, wo er immer steht, und die Kaffeemaschine funktioniert wie beim letzten Mal. Ich räume ein bisschen in der Küche herum. Finde ein Paket Kekse im Schrank. Stelle Tassen auf den Tisch. Sage Isak, dass er sich doch schon mal setzen soll. Ich fühle mich unwohl. Bin nicht ganz sicher, was ich erwartet habe, aber nicht das hier. Dass es irgendwie wie immer ist, hier zu sein. Erst als ich den Kühlschrank aufmache und sehe, dass die Milch eine Woche über dem Verfallsdatum ist, kriege ich akutes Bauchkneifen und muss mich setzen. Und erst da merke ich es.
Isak hat sich auf Omas Platz gesetzt.
Er sitzt auf ihrem Stuhl, guckt ihr halb gelöstes Kreuzworträtsel an und hat ihre Lieblingstasse vor sich stehen. Bei dem Anblick schnürt sich mein Hals zu. Ihre Lieblingstasse neben meiner. Auf ihrem Küchentisch. Eine dünne, alte Porzellantasse, die ganz speziell klingt, wenn man mit dem Fingernagel dagegenschnipst. Weiß mit einer blauen Blumenranke und einer kleinen Porzellanlocke am Henkel. Ich war mir nicht bewusst, dass ich ausgerechnet die Tasse aus dem Schrank genommen habe. Aus alter Gewohnheit. Oma hat ihren Kaffee nie aus einer anderen Tasse als dieser getrunken und jetzt kann ich den Blick nicht von ihr reißen. Ich starre und starre und starre, auf Isak und die Tasse und das Kreuzworträtsel und den Tisch, und plötzlich merke ich etwas im Mundwinkel, das nach Salz schmeckt.
»Weinst du?«, fragt Isak vorsichtig.
Ich wische mit der Hand über die Wange und sehe, dass sie feucht ist.
»Ja«, sage ich erstaunt.
Ich weine tatsächlich! Plötzlich laufen Tränen aus meinen Augen über meine Wangen, die ich nicht einmal aufhalten könnte, wenn ich es
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