Alles was ich sage ist wahr
ist oder nicht. Ich weiß auch nicht, ob ich sauer bin oder nicht. Der ganze Abend gestern war so merkwürdig. Fanny mit ihren Drinks, zusammen mit den Leuten. Ich hab sie nicht wiedererkannt. Und ich … wie ein altes Möbelstück, ein Staubfänger, der nicht richtig dazugehört. Völlig fehl am Platz und überflüssig. Nicht einmal Fanny kann mir weismachen, dass mich jemand vermisst hat, nachdem ich gegangen bin.
»Tut mir leid«, sage ich.
»Selber«, sagt sie. »Ich hab nicht mal mitbekommen, als du verschwunden bist.«
»Kein Wunder«, sage ich und grabe mein nettestes Friedenspfeifenlächeln aus. »Du warst voll damit beschäftigt, zu baden.«
Fanny seufzt müde.
»In durchsichtiger Unterwäsche?«
Ich nicke.
»Scheiße.«
Ich bleibe fast den ganzen Tag bei Fanny. Wir essen überbackene Brote und labern uns das Ohr ab. Dieses Mal wirklich gegenseitig. Anfangs muss ich mich noch konzentrieren, mich nach ihr zu erkundigen, aber je mehr Zeit vergeht, desto einfacher wird es. Fanny von sich erzählen zu hören, ist ein richtiges Aha-Erlebnis. So haben wir das also gemacht, als wir noch ganz normal befreundet waren! Wir haben zugehört! Folgefragen gestellt! Wollten alles wissen! Wie konnte ich das vergessen?
Ich schäme mich so, dass mir fast schlecht wird, als ich Fanny mit rosigen Wangen erzählen höre und einsehe, wie lange es her ist, dass ich mich für etwas anderes als mich selbst interessiert habe. Was habe ich eigentlich getan, um diesen reizenden Menschen als beste Freundin zu verdienen?
Die harte Wahrheit ist: in letzter Zeit absolut nichts.
»Verzeihst du mir, dass ich so ein Arsch gewesen bin?«, sage ich völlig unvermittelt mit vollem Mund.
Fanny schaut von ihrem überbackenen Brot auf.
»Was?«
Wir sitzen seit zehn Minuten da und blättern in irgendwelchen Zeitschriften, meine Ansprache wirkt wahrscheinlich ziemlich aus dem Zusammenhang gerissen. Sie sieht jedenfalls aus wie ein Fragezeichen.
»Tut mir leid, dass ich nur um mich selbst gekreist bin«, schiebe ich erklärend nach. »Und mich überhaupt nicht erkundigt habe, wie es dir geht.«
Fanny lacht.
»Ach was«, sagt sie und wedelt abwehrend mit der Hand. »Ist schon okay.«
»Nein«, sage ich. »Es ist nicht okay.« Ich verspüre ein plötzliches Bedürfnis, das hier wirklich zu klären, nicht flapsig beiseitezuwischen und so zu tun, als ob nichts gewesen wäre. »Es ist wirklich nicht okay. Ganz im Ernst, es tut mir leid.«
Fanny sieht mich mit schräg gelegtem Kopf an.
»Ganz im Ernst, das ist okay. Du hattest eine Krise.«
Jetzt habe ich das Fragezeichen im Gesicht.
»Ach ja?«
»Ja, klar.«
Ich lasse mir die Information auf der Zunge zergehen. Krise, sagt sie? Spannend. Ich glaube, ich hatte vorher noch nie eine Krise. Ich dachte, so was gäbe es nur im Film.
»Und in welcher Weise hatte ich eine Krise?«, frage ich.
Fanny sieht mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank.
»Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, Alicia? Wie steht es eigentlich mit deiner Selbsterkenntnis?«
»Wieso? Was soll ich selbst erkennen?«
»Auweia.«
Sie holt tief Luft, streckt sich und legt die Hände auf den Tisch. Als sie wieder zu reden anfängt, hat sie die Stimme einer Therapeutin.
»Fassen wir zusammen«, fängt sie an. »Fast siebzehnjähriges Mädchen mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein, die in ihrem bisherigen Leben noch keine wirklichen Misserfolge zu verzeichnen hatte. Schmeißt plötzlich die Schule, weil sie es als, Zitat, ›Zeitverschwendung‹ empfindet, dazuhocken und vor sich hin zu schimmeln. Glaubt stattdessen, wieder Zitat, ›Großes‹ ausrichten zu können, muss aber bald feststellen, dass die ›Großtaten‹ auf sich warten lassen. Fängt an, in einem Café zu jobben. Die Eltern des Mädchens sind nicht gerade begeistert und kommen mit nervigen Bedenken, weshalb das Mädchen beschließt, zur Großmutter zu ziehen. Tragischerweise stolpert die Großmutter wenig später unter der Dusche und zieht sich einen Oberschenkelhalsbruch zu. Das fast siebzehnjährige Mädchen findet sie auf dem Badezimmerfußboden und ruft einen Krankenwagen. Die Großmutter muss operiert werden. Aber damit nicht genug. Sie erholt sich nicht so recht von der Operation und wenige Tage später ist sie tot. Das fast siebzehnjährige Mädchen erlebt den ersten großen Verlust ihres Lebens. Wie verarbeitet sie das? Unter anderem, indem sie einen älteren Kerl in einer Besenkammer verführt und ihre Unschuld an ein Spülbecken
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