Alles - worum es geht (German Edition)
als hätte der Baum etwas zu ihr gesagt, trat das kleine Mädchen einen Schritt zurück, lachte und öffnete und schloss wieder den Mund.
Der Junge wusste nicht, was er tun sollte. Hinter den Rippen spürte er einen seltsamen Schmerz, aber er wusste nicht, ob der mit dem Mädchen zu tun hatte oder mit dem Baum. Er lachte, es war so ein lustiges Bild, das kleine Mädchen, das sich mit der Wange an die Brust des Baums lehnte. Plötzlich war er froh, dass es jemanden gab, der seinen Baum gern mochte. Vielleicht könnte das Mädchen auch zu seiner Welt gehören, dachte er, so wie seine Mutter und der Baum, und so wie seine Katze und sein Vater und ein bisschen auch der Gast einmal dazugehört hatten. Er hatte sie noch nie zuvor gesehen. Vielleicht war sie zu Besuch, und irgendwo da unten stand jemand, der ihr zusah, auch wenn er niemanden entdecken konnte. Es kam ihm nicht so vor, als ob es gerade jetzt außer dem Mädchen und dem Baum noch andere im Hof oder auch auf der ganzen Welt gäbe, das Mädchen kam nirgendwo her, und aus dem einen oder anderen Grund machte es den Jungen froh, dass es sonst nichts gab: nur das kleine Mädchen mit der Wange am Baum und den Armen um den Stamm, auch wenn sie nicht einmal halb herumreichten. Ihr weißer Pullover wurde schmutzig, und gelbe Blätter, die immer noch leicht feucht waren, segelten hinunter, und zwei landeten in ihren Haaren. Das Mädchen bemerkte die Blätter nicht, redete nur immer weiter auf den Baum ein, legte den Kopf in den Nacken und sah zur Baumkrone und zum Himmel auf.
Der Junge sah dem kleinen Mädchen zu, das mit dem Baum redete, ihn streichelte und umarmte. Niemand außer ihm, wirklich niemand, hatte je zuvor mit dem Baum gesprochen. Niemand anderes hatte ihn je gestreichelt. Er selbst hatte das nur getan, wenn er sich ganz sicher war, dass niemand ihm zusah, aber das Mädchen sah so aus, als wäre es ihr völlig egal, ob jemand ihr zusah. Sie strich einfach immer weiter über die Baumrinde.
Jetzt wandte das kleine Mädchen den Kopf und sah zum Fenster hoch. Sie lächelte und hob den Arm und winkte, so wie sie einem guten Freund oder einer Schwester winken würde. Jemandem, über den sie sich freute. Der Junge wusste nicht, ob er zurückwinken oder so tun solle, als hätte er sie nicht gesehen, so als wäre die Glasscheibe nicht durchsichtig. Das Mädchen winkte noch einmal. Erst nur mit einer Hand, doch dann hob sie beide Hände und winkte mit großen Kreisbewegungen der Arme, bis sie fast das Gleichgewicht verlor. Zögernd hob der Junge eine Hand und winkte ganz leicht, fast gar nicht, zurück. Ihm wurde warm, da war so ein Kribbeln in ihm, und er beugte sich schnell weit runter, sodass er von draußen nicht mehr zu sehen war. Doch schon im nächsten Moment hob er den Kopf wieder, gerade so weit, dass er mit dem einen Auge das Mädchen erspähen konnte, das immer noch da stand und winkte und jetzt etwas rief, was er nicht hören konnte. Trotzdem war er sich fast sicher, dass sie ihn bat, doch herunterzukommen und mit ihr zu spielen.
Aber das konnte er doch nicht! Er dürfe nicht aus dem Haus gehen, hatte die Mutter gesagt. Der Junge richtete sich auf und konnte wieder deutlich von unten gesehen werden. Er schüttelte den Kopf, doch das kleine Mädchen winkte nur immer weiter. Noch einmal schüttelte der Junge den Kopf. Deutlich und langsam von der einen Seite zur anderen, sodass kein Zweifel möglich war. Das kleine Mädchen winkte nur noch heftiger. Dem Jungen wurde ganz schwindlig, so als würden sich in seinem Kopf die Ermahnungen der Mutter und das Winken des Mädchens im Kreis drehen. Er konnte doch nicht hinuntergehen!
Vielleicht hatte der Baum etwas zu ihr gesagt, etwas Wichtiges, was sie ihm jetzt erzählen wollte? Oder vielleicht hatte der Baum dem Mädchen gesagt, dass er sich wünschte, der Junge käme herunter? Das kleine Mädchen hatte jetzt aufgehört zu winken, doch sie schaute immer noch zum Fenster hoch.
Der Blick des Jungen ging vorbei an dem Mädchen, vorbei am Baum und vorbei am Tor bis hinaus auf die Straße, dorthin, wo immer noch nicht das Mindeste von seiner Mutter zu sehen war. Ihm wurde eiskalt im ganzen Körper, regelrecht durchgefroren fühlte er sich; vielleicht war seine Mutter ja weggegangen und kam nie mehr zurück? Was sollte er dann tun? Wer würde ihm Essen machen? Wer würde ihn abends ins Bett bringen? Und wer würde ihm manchmal Geschichten vorlesen über lustige Tiere und kleine Jungen in fernen Ländern? Der Junge
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