Alles - worum es geht (German Edition)
gesagt. Das wusste er, aber er hatte es nicht gehört. Und zwar deswegen, weil er nicht zugehört hatte. Er hatte versagt. Er sollte doch auf den Baum aufpassen, er war der Auserwählte, und nun hatte er es vergessen! Der Baum sah jetzt nicht mehr nur traurig aus, sondern auch böse.
Der Junge hatte plötzlich so ein schweres Gefühl im Bauch. Er legte beide Hände ans Fenster und den Kopf dazwischen, als wollte er das Gesicht durch das Glas hinaus in den Regen schieben. Die Nase drückte sich platt, die Stirn wurde kalt und feucht, und es kam ihm vor, als würden seine Lippen nach und nach zu einem Teil der Scheibe. Von seinem Atem beschlug das Glas, und auf einmal konnte er nichts mehr sehen. Der Junge zog den Kopf zurück. Seine Augen waren voller Tränen. Er hatte versagt, und es regnete. Es regnete, und er hatte versagt.
Er wollte hinunter zum Baum. Aber solange es regnete, konnte er nicht auf den Hof hinunter. Der Junge schüttelte den Kopf, da war etwas, woran er sich nicht erinnern konnte. Etwas, woran er sich aber erinnern sollte, etwas Wichtiges. Der Baum hätte ihm sagen können, was es war. Der Baum sagte ihm alles, woran er sich erinnern musste, der Baum war sein Freund, doch nun war der Baum böse mit ihm und wollte gar nichts mehr sagen. Ganz grau und blau und schwarz und leer wurde der Junge von innen. Nie mehr würde er den Baum aus den Augen lassen!
Mühsam bugsierte der Junge einen alten grünen Lehnstuhl zum Fenster hinüber und setzte sich hinein. Er sah nichts als den Himmel, an dem sich schwere graue Wolken zusammenballten. Der Lehnstuhl war zu niedrig. Der Junge schob ihn zurück an seinen Platz und nahm sich stattdessen den leichten Schreibtischstuhl. Er stellte ihn direkt vors Fenster und setzte sich mit einem zufriedenen Murmeln darauf. Hier wollte er den ganzen Tag sitzen, er würde hier sitzen und den Baum ansehen und sich nicht rühren, bis es dunkel wäre, ja, er würde hier sitzen, bis es zu dunkel wäre, um noch irgendetwas zu sehen, und selbst dann würde er nicht weggehen.
Der Baum konnte sich auf ihn verlassen. Nie, nie wieder würde er ihn vergessen. Nicht einmal für einen winzigen Augenblick. Der Junge lächelte: Nie und nimmer!
Einmal hatte er eine Katze gehabt. Eine schwarze. Mit weißen Pfoten und einem weißen Fleck unter dem Kinn. Der weiße Fleck sah lustig aus, so als hätte die Katze Milch getrunken und etwas aus dem linken Mundwinkel hinauslaufen lassen. Der Junge hatte seine Katze geliebt. Sie hatte ganz allein ihm gehört. Die Katze und er waren Freunde. Sie hatte mit ihm gespielt, und sie hatte mit ihm gesprochen. Die Katze hatte ihm gesagt, wann sie hungrig war, sie hatte ihm gesagt, wann sie rauswollte, und sie hatte ihm gesagt, wann sie wieder hineinwollte. Manchmal war die Katze müde und schlief im Bett des Jungen, und am schönsten war es, wenn sie schnurrend mit ihrem Körper den Platz zwischen den Füßen des Jungen wärmte und ihm mit jedem einzelnen Schnurren erzählte, dass sie eine glückliche Katze sei. Glücklich, so im Bett liegen zu können, zwischen seinen Füßen.
Jeden Abend vor dem Schlafen machte die Katze einen Abendspaziergang. Dann ging sie hinaus ins Dunkel und kam irgendwann zurück aus dem Dunkeln. Doch eines Tages kam sie nicht zurück, und der Junge wusste sofort, dass sie nie mehr kommen würde, weil er sie vergessen hatte. Die Mutter hatte Gäste gehabt, und sie hatte gesagt, der Junge solle ins Wohnzimmer kommen und sich neben sie setzen, die Gäste wollten ihm ein paar Fragen stellen, es seien sehr wichtige Menschen von irgendeiner wichtigen Stelle. Das hatte seine Mutter gesagt, und auch, dass sie gekommen seien, um ihm zu helfen. Aber der Junge wusste sofort, dass sie gekommen waren, um ihm die Katze wegzunehmen. Er sah es ihnen am Gesicht an, dass sie zu der Sorte Mensch gehörten, die anderen Leuten die Katzen wegnahm. Diese Gäste saßen im Wohnzimmer und stellten ihm Fragen zu allem Möglichen, zu Autos und Bilderbüchern und Farben und Zahlen, Dingen, die ihn überhaupt nicht interessierten, aber es war alles sehr kompliziert, er konnte nicht beides zugleich im Kopf behalten, die Fragen und die Antworten und dazu noch seine Katze, und so kam es, dass er vergaß, einen winzigen Moment nur, an seine Katze zu denken, und so gelang den Gästen ihr Trick, und die Katze kam nie mehr zurück.
Einmal hatte er auch seinen Vater vergessen, und der Vater ging fort und kam nie mehr zurück. Der Junge wusste, dass es nun mal so war:
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