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Alles - worum es geht (German Edition)

Alles - worum es geht (German Edition)

Titel: Alles - worum es geht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janne Teller
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lauschte der Stille in der Wohnung; sie war wie staubtrockener Sand, den jemand ihm über den Kopf gekippt hatte. Still und trocken und grau und schwer, und mit diesem Gefühl von Kälte im Bauch schaute der Junge wieder nach dem kleinen Mädchen im Hof. Sie blickte immer noch zu ihm hoch. Sie winkte nicht mehr, und jetzt sah sie auch nicht mehr froh, sondern traurig aus. So als wäre sie wirklich enttäuscht, dass er nicht herunterkam und mit ihr spielte.
    Ohne weiter nachzudenken, rutschte der Junge schnell von seinem Stuhl, warf einen letzten Blick auf das Mädchen und ging eilig in den Flur, aus der Wohnung und die Treppe hinunter. Die Tür schlug hinter ihm zu, und er wusste nicht, wie er wieder hineingelangen sollte, doch das machte nichts.
    Das kleine Mädchen lachte, als sie ihn sah.
    »Der Baum freut sich, weil die Sonne scheint«, sagte sie.
    »Der Baum freut sich immer, wenn die Sonne scheint«, sagte der Junge.
    Einen Moment lang schauten sie einander nur an.
    »Das ist mein Baum«, sagte der Junge.
    »Ja.« Das Mädchen nickte. »Ich bin zu Besuch bei meiner Tante.« Sie nickte noch einmal.
    Der Junge wusste nicht, was er sagen sollte. Das Mädchen war so klein und blond, aber sie war da und ging nicht weg und sagte nur Ja, aber vielleicht hatte sie ihn auch nicht verstanden.
    »Das ist mein Baum, dass du’s nur weißt. Mein Baum!«
    »Ja«, antwortete das kleine Mädchen. »Die anderen sagen, dass du ihn den ganzen Tag anguckst. Das bist doch du, oder? Der den ganzen Tag den Baum anguckt?«
    »Weil das ja auch mein Baum ist«, wiederholte der Junge. »Ich muss auf ihn aufpassen.«
    »Hm.« Das Mädchen nickte.
    »Wenn ich ihn nicht immer angucke, dann verschwindet er und kommt nie mehr zurück. Aber der Baum ist mein Freund, und er darf nicht verschwinden und nicht mehr zurückkommen.«
    »Deshalb musst du ihn die ganze Zeit angucken?«
    »Deshalb muss ich ihn die ganze Zeit angucken, ja.«
    Das kleine Mädchen zog nachdenklich erst an dem einen Rattenschwänzchen, dann an dem anderen.
    »Und was ist, wenn du schläfst?«
    »Ich schlafe nie.«
    »Du schläfst nie?« Beeindruckt trat sie einen Schritt zurück.
    »Jedenfalls nicht so richtig. Ich liege im Bett, so wie meine Mutter das will, aber ich habe die ganze Zeit die Augen offen, außer wenn sie hereinkommt, dann mache ich sie ganz fest zu, aber solange meine Augen zu sind, denke ich nur an den Baum, an nichts anderes, und das ist dann auch okay.«
    »Na dann …«, murmelte das Mädchen.
    »Ja, das ist das Allerwichtigste«, beharrte der Junge. »Ich muss die ganze Zeit an den Baum denken, auch wenn ich ihn nicht angucke. Ich hatte nämlich mal eine Katze, und einmal habe ich nur eine Sekunde lang nicht an sie gedacht, da ist sie nie mehr zurückgekommen, und als ich einmal meinen Vater für einen ganz kleinen Moment nicht im Kopf hatte, da ging er weg und kam nie mehr zurück, und genauso ging es auch mit dem Gast, aber das war nicht so schlimm. Jetzt verstehst du wohl, warum ich die ganze Zeit an den Baum denken soll, damit der nicht auch noch verschwindet.«
    »Ja, sicher«, sagte das Mädchen und nickte, als hätte sie verstanden. »Ich habe auch eine Katze. Einen Kater, und manchmal vergesse ich ihn, aber er ist trotzdem immer da. Er verschwindet nicht, auch wenn ich nicht den ganzen Tag an ihn denke. Nicht mal, wenn ich mit Mama und Papa in Ferien bin. Er heißt Hannibal und gehört mir. Aber vielleicht ist das was anderes?«
    Der Junge antwortete nicht, er sah nur das kleine Mädchen an, das mit ihm redete, und genau in dem Moment, genau da unter dem Baum, fühlte er sich so glücklich wie nie zuvor. Die Sonne war glücklich, der Baum war glücklich, er selbst war glücklich.
    »Du verschwindest nicht, oder?«
    »Meine Tante fährt mich heute Abend nach Hause.«
    »Kommst du wieder?«
    »Ja, ich komme wieder!«, antwortete das kleine Mädchen laut, fast rief sie es. Dann fing sie wieder an, um den Baum herumzulaufen, und dabei sang sie.
    Der Junge kannte das Lied nicht, aber es klang so hübsch und lustig, dass er lachen musste. Er lief hinter dem Mädchen her um den Baum herum. Sie reichte ihm nur bis knapp über den Bauchnabel, aber sie lief so schnell, dass er sich anstrengen musste, um mitzukommen. Der Junge lachte laut; es machte richtig Spaß, mit dem kleinen Mädchen um den Baum herumzugehen und ein Lied zu singen, und er vergaß seine Mutter, die jeden Moment kommen konnte, und seine Katze, die weggegangen und nicht zurückgekommen

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