Alles Wurst
ich hielt Theologen immer für alte Männer in schwarzen Talaren, die Frauen nur aus den Heftchen in ihrer Schreibtischschublade kennen.«
»Mit Thea und Malin haben Sie also schon Bekanntschaft geschlossen«, grinste er. »So viel zum kleinbürgerlichen Klischee des Theologen, nicht wahr?« Er schüttelte mir die Hand. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin auf der Suche nach Herrn Defries und wäre froh, wenn Sie mir sagen können, wo ich ihn finde.«
»Leider muss ich Sie enttäuschen. Sicher, Jens ist wie ein Sohn für mich und das meine ich nicht nur im geistigen Sinne. Davon abgesehen ist er ein erwachsener Mensch, der seine eigenen Wege geht. Auch wenn es nicht die breiten, ausgetretenen sind.«
»Die ausgetretenen?«
»Jens ist ein besonderer Mensch. Ebenso charismatisch wie schwierig. Seine Sicht der Realität ist in vielerlei Hinsicht eine andere als unsere.«
»Sie meinen, er bildet sich Dinge ein, die gar nicht da sind? So in der Art?«
Der Theologe schüttelte missbilligend den Kopf. »Sagen wir, er geht sie auf eine ursprünglichere Art und Weise an als wir. Auf eine unverfälschte.«
»Können Sie sich etwas vorstellen, das er Ihnen mitteilen wollte? Etwas, das er möglicherweise herausgefunden hat?«
»Herausgefunden? Nein, da klingelt es nicht bei mir. Wie kommen Sie darauf?«
»Weil er mir ein Päckchen anvertraute, das ich gegebenenfalls an Sie weiterleiten sollte.«
»Dann tun Sie das doch und wir werden sehen, was er herausgefunden hat.«
»Das Problem ist leider: Der Umschlag ist spurlos verschwunden.«
Haberland runzelte ungläubig die Stirn. »Verschwunden?«
»Sie wissen doch, wie das ist.« Ich deutete auf die Unordnung im Raum. »Im Umzugschaos verschwinden Dinge eben.«
»Umzug? Wovon reden Sie überhaupt? Was befand sich denn in diesem Päckchen?«
»Das würde ich gern von Ihnen wissen.«
»Gratuliere, Herr Detektiv«, ärgerte sich der Theologe. »Wenn ich das wüsste, dann hätte Jens es mir ja wohl nicht zukommen lassen müssen.«
»Defries wirkte durcheinander. Er hatte getrunken und faselte etwas von seinem Messiasjob.«
Haberland wirkte pikiert. »Von seinem Job?«
»Frau Nebel vom Münster Marketing scheint sich darauf zu verlassen, dass Herr Defries zum Wohle der Stadtwerbung den Jan van Leiden spielt. Ich hatte den Eindruck, dass ihm das Stress bereitet.«
»Jens befasst sich seit Langem mit diesem Kapitel unserer Stadtgeschichte. Jede Veröffentlichung zu dem Thema kennt er auswendig. Soviel ich weiß, hat er vor, irgendwann einen Roman darüber zu schreiben.«
»Er ist Schriftsteller?«
»Nun, das nicht gerade. Er hat in Utrecht vier Semester Grafik und Design studiert. Aber wenn Sie mich fragen, da ist leider nicht viel bei herausgekommen, bis auf einen Haufen Kritzeleien.«
»Kritzeleien?«
»Strichmännchen und Sprechblasen. Sie wissen schon.«
Haberland begann auf und ab zu schreiten und verfiel in den Vortragston des routinierten Dozenten. »Die meisten denken, dass van Leiden ein Extremist war, der sich in wilden Orgien ausgetobt hat. Aber ich sage Ihnen, Herr Voss: Das ist Propaganda. Was wir über die Täufer wissen, stammt von ihren Feinden, den Mächtigen jener Zeit. So war es doch immer: Die herrschenden Gedanken sind immer die Gedanken der Herrschenden.« Der Theologe trat zu dem Poster und fixierte Ernesto Cardenal, von dem er Beifall für seine Bemerkung erwarten konnte. »In Wirklichkeit war er ein Freund der kleinen Leute, ein Rebell, der dem Fürstbischof und dem gesamten religiösen und weltlichen Establishment im Weg war.«
»Sie wollten also auch, dass er den Jan van Leiden spielt?«
Haberland schüttelte ärgerlich den Kopf. »Jens ist jung und hasst es, Kompromisse einzugehen. Ich kann ihn verstehen, früher war ich schließlich genauso.« Er ging zu einem der Regale, schob eine Topfpflanze beiseite, und da war er dann doch: der Teller mit Keksen. Er steckte sich einen Keks in den Mund. »Experimentaltheologie«, fuhr er fort, während es zwischen seinen Zähnen krachte, »ist der kühne Versuch, Undenkbares nicht nur zu denken, sondern auch in die Praxis umzusetzen. Sie definiert Glauben nicht als innere Einstellung, sondern auf moderne, empirische Weise: was er bewirkt. Auf den Stein des Anstoßes kommt es an. Unabhängig davon, was der Junge unter seiner Rolle versteht: Er wird so ein Stein sein.«
Während er redete, trat ich ans Fenster und ließ meinen Blick über eine studentische
Weitere Kostenlose Bücher