Alles Wurst
Speisekarte. Sie stammt von mir.«
»Sie haben diese originellen Bezeichnungen erfunden?«
»Bezeichnungen.« Zucker war beinahe eingeschnappt. »Auch wenn mein Medium nicht Pinsel und Leinwand sind, auch nicht die Tasten eines Flügels, so sehe ich mich dennoch als Künstler.«
»Was ist denn Ihr Medium?«
»Nahrungsmittel. Fleisch, um es ganz präzise zu benennen.«
»Ein Fleischkünstler also.«
»Kreativität kommt nicht, wie allgemein angenommen wird, von ›erschaffen‹. Kreas ist Griechisch und bedeutet Fleisch. So gesehen ist der Fleischkünstler kreativ im ursprünglichen Sinne.«
»Tiere abzumurksen und sie zu Brotbelag zu verarbeiten − was ist denn daran kreativ?«
Erneut bedachte Zucker mich mit einem strafenden Blick. »Tiere abmurksen, das tun Metzger, Jäger und Veterinäre. Unsereins findet das entsprechende Material vor und designt daraus etwas Neues. Zum Beispiel Wurstwaren.«
Ich grinste. »Das ist ja wirklich ganz was Neues.«
»Die meisten machen sich keine Vorstellung davon, wie vielfältig das Spektrum ist. Wussten Sie, dass es auf diesem Planeten inzwischen fast mehr Wurstsorten als Käferarten gibt? In ein oder zwei Jahrzehnten wird Wurst ein Synonym für Nahrung sein.«
»Und was wird aus den Vegetariern?«
»Wurst, so wie ich sie sehe«, belehrte mich die Fledermaus, während sie sich mit einer Serviette Salatdressing vom Kinn tupfte, »steht jenseits dieser Polaritäten. Sie kann, muss aber nicht aus Fleisch bestehen. Nehmen Sie beispielsweise unser Bärchenragout. Denken Sie denn wirklich, da ist Knut drin?«
»Was denn dann?«
»Nun, wir wollen hier doch nicht bei Tisch Betriebsgeheimnisse ausplaudern, was?« Zucker spießte ein welkes Salatblatt auf und winkte mir damit zu. »Hauptsache, es schmeckt Ihnen.«
Ich kaute auf meinem Stück Ente herum und war mir, was das anging, nicht mehr so sicher. »Dass Sie tagsüber in dieser Abfüllanlage schuften und sich abends bei Wallenstein ein Schneckenomelett gönnen, hat nichts damit zu tun, dass die beiden Herren sich kennen?«
»Warum sollte es?«
»Aber Sie wussten davon?«
»Sicher.« Zucker nickte. »Schließlich verdanke ich dieser Tatsache meinen Job hier.«
»Wallenstein hat Ihnen den verschafft?«
»Er wollte mich damals nicht haben, aber Castrop, sein Spezi, ein aufgehender Stern in der Fleischbranche, suchte händeringend qualifiziertes Personal.« Mein Gegenüber deutete auf meinen Teller. »Schmeckt Ihnen die Ente nicht?«
Ich hatte auf etwas Hartes gebissen und pulte mit dem Finger im Mund herum, bis ich es zu fassen kriegte. Es blinkte, als ich es auf dem Tellerrand ablegte. Ein Stück Metall. Oder Chrom? »Seien Sie nicht so, Herr Zucker«, bat ich. »Verraten Sie mir wenigstens eins Ihrer Berufsgeheimnisse. Was steckt in dieser Ente B54? «
»Haben Sie schon mal lahme Enten beim Überqueren einer Straße beobachtet?«, raunte er mir zu. »Sie kennen doch die Bundesstraße Richtung Ochtrup. Kurz vor Steinfurt steht ein verlassener Starenkasten. Und gleich dahinter ist eine Stelle, wo die Biester ständig ohne nach links oder rechts zu schauen über die Straße tapsen. Meistens so gegen sieben Uhr dreißig, bei dichtem Berufsverkehr.« Der Fleischkünstler grinste. »Was dann passiert, können Sie sich denken.«
Kapitel 4: Die Einweihung
Jan der Rächer kämpft nicht mehr allein, er ist schließlich nicht Batman. Er ist Jan, der Täufer der Enterbten. Und er hat einen Mitstreiter gefunden. Man nennt ihn den Mutanten. Als kleiner Junge wurde er von seinen Eltern an ein Versuchslabor verkauft, das mit Geheimmedikamenten experimentierte. Bei einem Fluchtversuch fiel er in einen Bottich mit Ohrentropfen, was seine Lauscher ins Unermessliche wachsen ließ. Aber es schärfte auch die anderen Sinne, vor allem seinen Verstand. Der Mutant öffnet Jan die Augen über das Wesen des Fleisches.
»Gott, der Herr, hat das Fleisch erschaffen«, sagt er, »damit das Wort Fleisch werden konnte, die Wurst hingegen ist des Menschen Werk, ein regelrechtes Machwerk aus Zutaten, die man nur deshalb für essbar hält, weil sie durch den Wolf gedreht werden. Wer kann schon ausrechnen, wie viele Milliarden Tonnen Wurst täglich auf diesem Planeten vertilgt werden und welche unaussprechlichen Dinge auf diese Weise in menschlichen Mägen landen?«
»Wohl niemand«, antwortet Jan. »Aber die, die sie da hineinpacken, sollte man nicht davonkommen lassen.«
»Ich fürchte, mein Lieber, daran kannst du
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