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Allmachtsdackel

Allmachtsdackel

Titel: Allmachtsdackel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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und die Kuhhierarchie. Die Herde wird von einer Leitkuh angeführt, unserer Alice, da drüben.«
    Vertrocknete Kuhfladen staubten unter unseren Tritten. An der Flanke des Tals zogen sich die Pappeln des Schalksbachs und dunkler Wald entlang bis zu den Häusern von Stockenhausen oben auf dem Bergrücken. Die Rinder standen und lagen verstreut in Gruppen beisammen und käuten wieder, zwischen ihnen Kälber. Samanta hechelte uns im gemütlichen Passgang voraus, Cipión schnüffelte im Zickzack.
    »Die Hunde signalisieren den Kühen, dass wir als Freunde kommen«, behauptete Vicky. »Rinder haben es nicht so mit dem Menschen. Sie können bis zu siebzig Artgenossen unterscheiden, aber nur zwei bis drei Menschen.«
    Zwei Dutzend feuchte, nackte Mäuler, flankiert von Ohren und Hörnern, hatten sich uns zugewandt. Fliegen umschwirrten wie Satelliten die Köpfe, zuweilen zu Wolken getrieben, wenn eine Kuh den Schädel schüttelte. Meine Rippe erinnerte mich an die bereits gehabte Begegnung mit der Kuh.
    Vicky rieb sich das Kinn und bemerkte verwundert: »Aber wir sind nicht willkommen.«
    »Vielleicht wegen Cipión?«
    »Ach was, Rinder fürchten sich nicht vor kleinen Raubtieren.« Er machte zwei lange Schritte zur Seite, und die Hörner und Ohren schwenkten synchron mit. »Außerdem schauen sie uns an, nicht die Hunde.« Er steckte die Hände in die Taschen seiner Shorts und zog die Schultern hoch. »Man sollte es nicht meinen, aber Kühe sind viel gefährlicher als Stiere. Sie greifen ohne Vorwarnung an, wenn sie ihre Kälber verteidigen.« Er pfiff nach Samanta und wandte sich ab ins Gelände.
    »Die Bullenherde«, erklärte er, »wird von einer Handvoll Bullen angeführt. Unser Alphabulle heißt Zeus. Sie stehen da drüben am Waldrand. Für die Kälber gibt es Kindergärten, wo sie miteinander spielen. Sie bilden Gangs und Seilschaften. Wie im richtigen Leben. Es gibt fünf oder sechs Führungsbullen, die in der Herde ganz bestimmte Positionen besetzen, zum Beispiel die des Schlussstiers. Immer wieder versuchen Jungbullen, einen Alten von seiner Führungsposition zu vertreiben. Das geschieht nach festen Regeln. Sie stellen sich auf und zeigen sich in ihrer Kraft. Dann kommt der Angriff. Entscheidend ist, wer von beiden genügend Kraft und Ausdauer besitzt, den anderen vom Platz zu schieben. Wobei dem Jungbullen seine Jugendfreunde zu Hilfe kommen wie Knappen.«
    Die Bullen interessierten den jungen Mann sichtlich mehr als die Kühe.
    »Siehst du die beiden da drüben?« Er streckte den Arm zu einem Bullen und einem Kalb aus. Der Lockenkopf käute wieder, was seinem Gesicht einen Ausdruck tiefster Zufriedenheit verlieh. Das Kalb döste vertrauensvoll zu seinen Füßen.
    »Niedlich!«
    »Solche Beziehungen untersuche ich in meiner Diplomarbeit. Tolerierte Abartigkeiten in tierischen Sozialverbänden. Es ist nicht üblich, dass ein Bulle mit einem wenige Wochen alten Kalb Freundschaft schließt und dabei gewissermaßen eine Mutterrolle übernimmt.«
    »Aber Milch hat er nicht.«
    Vicky deutete ein Lächeln nicht einmal an. »Zum Trinken geht das Kalb zu seiner Mutter. Meine These ist, dass in allen großen Verbänden abnormes Verhalten vorkommt und toleriert wird, solange es nicht den Gesamtfrieden stört. Jede Art hält sich auf diese Weise einen Vorrat an genetisch bedingtem Verhaltenspotenzial, das gebraucht werden könnte, wenn sich die Umweltbedingungen ändern und andere Überlebensstrategien notwendig sind.«
    »Aha.«
    »Ja«, ereiferte er sich. »In Ameisenstaaten gibt es beispielsweise Exemplare, die über ihre eigenen Artgenossen herfallen und sie totbeißen. Die Gesamtheit könnte einzelne abartige Ameisen leicht vernichten, tut es aber nicht. Da in der Natur nichts überlebt, was nicht sinnvoll ist, muss man davon ausgehen, dass der Ameisenstaat sich autoaggressive Exemplare vorhält, für den Fall, dass man sie eines Tages braucht.«
    »Wofür sollte man die brauchen?«
    »Beispielsweise wenn ein Virus den ganzen Staat dahinzuraffen droht. Dann wäre es sinnvoll, wenn es Exemplare gibt, die kranke Artgenossen töten können.«
    »Von einer Übertragung auf die menschliche Gesellschaft bitten wir abzusehen.«
    Vicky lächelte, wenn auch zögernd. »Du erinnerst dich an den Problembären Bruno, der im Frühjahr in Bayern jede Nacht Schafe gerissen hat und dann abgeschossen wurde?«
    Ich nickte.
    »Drei Dinge hat er anders gemacht als unter Bären üblich: Er ist dem Menschen sehr nahe gekommen, hat mehr Schafe

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