Allmachtsdackel
Handlung, die er gewöhnlich mit großer Zielsicherheit und einer gewissen Zärtlichkeit ausführte, »dass Vicky schwul ist?«
Richards Hand stockte. »Hat er nicht eine Freundin in Hohenheim? Sie studiert Medienwissenschaften. Sie heißt Phyllis.«
»Eine Freundin kann man immer haben.«
»Und dass einer schwul ist, ist schnell geschwätzt.«
»Es ist doch nicht schlimm!«
»Aber es ist auch allein seine Sache zu entscheiden, wann, wie und mit wem er über seine sexuellen Neigungen redet.« Er startete den Motor.
»Vicky hat eine Woche lang auf Gran Canaria verbracht, und zwar in einem Schwulenparadies. Und sicher nicht allein. Sonntag vor einer Woche ist er zurückgekommen. Ich habe eine Bordkarte und eine Restaurantrechnung gesehen.«
Schweigend lenkte Richard, was ihm sichtlich Freude bereitete, das schwere Fahrzeug aus der Parkbucht.
»Und eine Woche davor, also vor zwei Wochen, ist er ins Wallis gefahren. Und zwar nach Chippis. Das liegt ganz in der Nähe von Sierre …«
»Siders auf Deutsch«, schweifte Richard entschlossen in Bildung ab. »Der Alterssitz von Rainer Maria Rilke: ›0 Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr! / Und alles schwieg. Doch selbst in der Verschweigung / ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor.‹«
»Hübsch. Aber bei Sierre befindet sich heute ein christliches Ferienlager mit frühchristlichem Handyverbot. Jannik Filser hätte dort Raftingferien machen sollen. Er ist auch dorthin gefahren, vor zwei Wochen, aber am folgenden Tag schon wieder abgereist, angeblich wegen einer kranken Mutter. Gleichzeitig ist Vicky in Chippis angekommen. Tags darauf ist er zum Züricher Flughafen gefahren. Zumindest sind diese Ziele auf seinem Navigator programmiert.«
»Ein Navigator gibt keinen Aufschluss darüber, wie viele Personen das Fahrzeug transportiert hat.«
»Aber du musst zugeben, dass die Koinzidenz der Daten und Orte frappierend ist. Und Jannik ist mit Bikerstiefeln an den Füßen gestorben. Wohin fahren wir eigentlich?«
Wir rollten an einem gigantischen Gebäude entlang, das ich an versteckten, aber untrüglichen Zeichen als Schule identifizierte: viele Fenster von tödlicher Regelmäßigkeit, viele Bögen, ein Baum, Tischtennisplatten.
»Die Sichelschule«, klärte Richard mich mit Nostalgie in der Stimme auf. »Gebaut in den zwanziger Jahren, trotz Inflation und Backsteinmangel. Die Fassade ist übrigens Jugendstil.«
»Sehr schön.«
»Im Hof befindet sich ein Brunnen, der mir als Kind reichlich Kopfzerbrechen bereitet hat. Oben drauf steht ein Knabe mit einer Sau. Auf dem Rücken trägt er einen Rucksack, in dem offensichtlich ein Stein steckt. Hans im Glück. Wir hatten natürlich keine Märchenbücher daheim. Ich musste es in der Schulbibliothek nachlesen. Seitdem frage ich mich, warum der Künstler von all den Tieren, die der Knabe nach und nach eintauscht, ausgerechnet die Sau ausgewählt hat, obgleich es doch eigentlich ein Ferkel gewesen war.«
Wir fuhren an Bahngleisen entlang. Der Stadtkern mit dem Turm der Stadtkirche entschwand. Ganz falsche Richtung.
»Jedenfalls«, nahm ich meine Peilung wieder auf, »spricht viel dafür, dass Vicky und Jannik sich hinterm Rücken von Janniks Eltern im Wallis getroffen haben und gemeinsam nach Gran Canaria geflogen sind. Am Sonntag, als Jannik zurückkam, hat er den erlaubten Handyanruf vom Lager aus fingiert und seinen Eltern versichert, dass es ihm gut gehe.«
Wir bogen über eine Brücke. Der Turm der Stadtkirche schob sich wieder ins Feld der Windschutzscheibe, während sich Richard endlich entschloss, meinen Stier bei den Hörnern zu packen. »War Vicky nicht gestern Abend in München auf einer Tagung?«
»Wofür wir bislang nur sein Wort haben. Und selbst wenn, wo war er gestern Nachmittag? Die Leiche hat seit dem Nachmittag im Fluss gelegen. Gestorben ist Jannik dort auch nicht, sondern in einem geschlossenen Raum. Selbst wenn Jannik nicht mit Vicky eine Woche auf Gran Canaria war, stellt sich immer noch die Frage, wo er sich die letzten vierzehn Tage aufgehalten hat, während seine Eltern ihn im Lager in Sierre glaubten, so gut wie unerreichbar wegen des Telefonverbots. Ich glaube, dass Vicky und Jannik nach ihrem Gay-Urlaub noch eine Woche zusammen verbracht haben. In irgendeinem Versteck hier in der Gegend. Und dann ist irgendetwas passiert.«
»Lisa, du bist im Begriff, Barbaras Sohn zum Mörder zu machen. Und zwar aus purer Langeweile! Nur weil du aus dem Tod meines Vaters keinen Mordfall konstruieren
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