Allmen und die verschwundene María
Kompost und Hornspänen.
So etwas wie »Allmen« meinte er bei ihrem Aufschrei am Telefon gehört zu haben. Aber was machte das für einen Sinn? Oder alma ? Palma?
Auch bei der gescheiterten Übergabe hatte María etwas gerufen, das sie nicht verstanden hatten. Ebenfalls etwas mit A, wie Don John bestätigte.
Er klopfte die erste Staude aus ihrem Topf, stellte ihren Wurzelballen in einen Bottich mit Wasser und wartete, bis sie sich vollgesogen hatte.
Allmen? Alma ? Palma?
Yalmha? Yalmha war ihm bislang nicht in den Sinn gekommen. Er kannte das Wort als kolumbianischen Frauennamen, María hatte ihn einmal erwähnt, er wusste nicht mehr, in welchem Zusammenhang. Eine Schauspielerin? Sängerin? Jedenfalls eine Prominente.
Carlos hob den Rhododendron aus dem Bottich und stellte ihn auf seinen Platz im Beet. Dann [149] begann er, die nächste Pflanze auszutopfen. Mittendrin hörte er auf. Er eilte zum Gärtnerhaus zurück, zog die erdigen Arbeitsstiefel aus und lief in Socken die Treppe hinauf. Er schaltete seinen Computer ein und gab den Suchbegriff »Yalmha« ein.
Keine Schauspielerin, keine Sängerin, aber schon eine Berühmtheit. Eine traurige.
Sie war die neunzehnjährige Tochter eines Journalisten, der eine Reportage über kriminelle Banden in Bogotá veröffentlicht hatte. Sie wurde entführt und über ein halbes Jahr in der Tiefgarage eines Rohbaus festgehalten, gequält und missbraucht. Bei der Fertigstellung des Gebäudes wurde ihre Leiche gefunden. Das Schicksal der jungen Frau hatte das ganze Land bewegt und war in den Medien als El Caso Yalmha bekanntgeworden.
Yalmha! Carlos’ Herz raste. Das war es, was María ihm zugerufen hatte. Was meinte sie damit? Dass sie gequält und missbraucht wurde wie Yalmha? Dass sie ebenfalls in der Tiefgarage eines Rohbaus festgehalten wurde? Oder beides?
Carlos rannte die Treppe hinunter und durch das kleine Wohn-Esszimmer zur Tür der Bibliothek. Er klopfte trotz der Eile an und wartete die eine Sekunde auf Don Johns: »¡Adelante!«
Don John saß mit einem Buch in seinem Lesesessel, das Handy griffbereit auf dem Beistelltisch. [150] »¿Qué pasa?«, fragte er, als er Carlos’ Aufregung sah.
»En un garaje subterráneo«, rief er und erklärte atemlos, weshalb er fast sicher sei, dass sich María Moreno in der unterirdischen Garage eines noch nicht fertiggestellten Gebäudes befinde.
Noch während er Don John seine Theorie erläuterte, begann ihn sein Enthusiasmus zu verlassen. Er sah, wie sein Don sich Mühe gab, seine Skepsis mit gespielter Begeisterung zu überspielen, und es wurde ihm klar, wie dünn der Strohhalm war, an den er sich klammerte. Und selbst wenn: Wie viele unfertige Bauten mit Tiefgarage gab es in der Stadt? Und wer sagte, dass sie nicht außerhalb der Stadt lag?
Carlos verlor den Faden, und sein Redefluss versiegte wie die Musik aus einem alten Grammophon, das abgelaufen ist. Ratlos sah er seinen Zuhörer an.
Da tat Don John etwas Überraschendes: Er stemmte sich aus dem Sessel und sagte: »Vámonos.«
6
Wenn Carlos nicht gewesen wäre, hätte Allmen die Wartezeit im Bett verbracht. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass dies der beste Ort war, die Zeit [151] zu verbringen, wenn sie im Wachzustand nicht zu ertragen war.
Aber im Moment war es Carlos, der als der von der Katastrophe am direktesten Betroffene die Regeln bestimmte. Er glaubte, wie die meisten Menschen, deren Leben aus Arbeit bestand, dass man sich nur durch Aktivität von der Wirklichkeit ablenken könne.
Was für ein gewaltiger Irrtum! Nach Allmens Meinung gab es nichts, was weniger von der Wirklichkeit ablenkte als die Aktivität. Sie war die Verkörperung der Wirklichkeit.
Aber die verzweifelte Hoffnung, mit der Carlos ihm seine Yalmha-Theorie erklärt hatte, und seine Enttäuschung, als sie während des Erzählens immer fadenscheiniger wurde, hatten Allmen dazu bewogen, das bizarre Spiel mitzuspielen.
Deswegen saßen sie jetzt in Herrn Arnolds Cadillac und fuhren auf gut Glück und so systematisch wie möglich die Baustellen der Stadt ab.
Drei hatten sie schon hinter sich. Bei der ersten hatten sie sich im Baubüro, einem zweistöckigen Baucontainer, zu einer Besichtigung angemeldet. Allmen hatte einem Bauführer eine Visitenkarte von Allmen International Inquiries übergeben und erklärt, dass die Firma in eines der Büros hier einziehen werde und er seinem südamerikanischen [152] Geschäftspartner, Herrn de Leon, gerne die zukünftigen Räumlichkeiten
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