Allwissend
Art und Weise, auf die die Presse Ermittlungsdetails erfährt, war publik geworden, dass die Kreuze jeweils einen Mord ankündigen sollten und ein halbwüchsiger Schüler als Verdächtiger galt. Die Telefone des CBI wurden seitdem mit Anrufen überschüttet, in denen es um den »Masken-Killer« ging, den »Internet-Killer« oder den »Kreuz-Killer« (ungeachtet der Tatsache, dass keines der beiden beabsichtigten Opfer ums Leben gekommen war).
Der Ansturm ließ nicht nach. Sogar der überaus medienfreundliche Chef des CBI war, wie TJ es geistreich und unbekümmert formulierte, »overbywältigt«.
Kathryn Dance drehte sich auf ihrem Bürostuhl herum und schaute hinaus zu einem knorrigen Baum, der durch Druck und Anpassung aus zwei Kiefern zusammengewachsen und nun stärker war als die einzelnen Stämme zuvor. Auf Augenhöhe vor dem Fenster war ein beeindruckender Knoten sichtbar, den Dance häufig als Fokus benutzte, wenn sie angestrengt nachdachte.
Aber dafür blieb jetzt keine Zeit. Sie rief Peter Bennington im Kriminallabor des MCSO an und erkundigte sich nach den Ergebnissen vom zweiten Kreuz und Kelley Morgans Haus.
Die Rosen, die man beim zweiten Kreuz zurückgelassen hatte, wurden von der gleichen Art Gummiband zusammengehalten wie die Blumen des Feinkostgeschäfts in der Nähe von Travis' Arbeitsstelle, aber es konnten an ihnen keine hilfreichen Spuren gesichert werden. Die Stoffprobe, die Michael O'Neil von dem grauen Kapuzenshirt im Wäschekorb der Brighams entnommen hatte, war tatsächlich nahezu identisch mit der Faser, die unweit des zweiten Kreuzes gefunden worden war. Der winzige Fetzen braune Folie aus dem von Ken Pfister bezeichneten Waldstück stammte höchstwahrscheinlich von einer M&M-Tüte - und Dance wusste, dass Travis diese Süßigkeiten gekauft hatte. Das Getreidekorn vom Tatort könnte zu einem Hafer-und-Kleie-Bagel von Bagel Express gehören. Bei Kelley Morgans Haus hatte der Junge keine Partikel oder sonstigen Spuren hinterlassen, abgesehen von einem roten Blütenblatt, das zu den Rosen bei Kreuz Nummer zwei passte.
Die Maske war zwar selbst gemacht, aber der dabei verwendete Klebstoff, das Papier und die Tinte waren handelsüblich und nicht zurückverfolgbar.
Das Gas, mit dem Kelley Morgan getötet werden sollte, war Chlorgas - die gleiche Art Gas, wie man sie mit so verheerenden Folgen im Ersten Weltkrieg eingesetzt hatte. »Angeblich hat er sich das Zeug über eine Neonazi-Seite im Internet besorgt«, sagte Dance zu Bennington. Eine von Caitlins Freundinnen hatte so etwas behauptet.
Der Chef der Spurensicherung lachte auf. »Das wage ich zu bezweifeln. Es kam vermutlich aus irgendeiner Küche.«
»Wie bitte?«
»Er hat Haushaltsreiniger benutzt.« Der Deputy erklärte, dass eine Handvoll einfacher Substanzen in der entsprechenden Mischung dieses Gas freisetzte; man konnte sie in jedem Super- oder Drogeriemarkt frei erwerben. »Aber wir haben keine Behältnisse oder sonst etwas gefunden, das uns Aufschluss über die konkreten Ausgangsprodukte gegeben hätte.«
Nichts am Tatort oder in dessen näherer Umgebung hatte erkennen lassen, wo der Junge sich vielleicht versteckte.
»Und David war vorhin bei Ihnen zu Hause.«
Dance zögerte. Sie war sich nicht sicher, von wem er sprach. »David?«
»Reinhold. Er arbeitet bei der Spurensicherung.« Ach, der junge eifrige Deputy.
»Er hat die Zweige aus Ihrem Garten mitgenommen. Doch wir können noch immer nicht sagen, ob sie absichtlich dort hingelegt wurden oder ob es ein Zufall gewesen ist. David sagt, es gab keine weiteren Spuren.«
»Er ist früh aufgestanden. Ich bin um sieben Uhr von zu Hause weggefahren.«
Bennington lachte. »Noch vor zwei Monaten hat er bei der Highway Patrol Strafzettel verteilt, und nun glaube ich, dass er ein Auge auf meinen Job geworfen hat.«
Dance dankte dem Laborleiter und legte auf.
Die Enttäuschung nagte an ihr. Kathryn ertappte sich dabei, dass sie das Foto der Maske anstarrte. Es war einfach nur scheußlich - grausam und verstörend. Sie nahm den Hörer ab und rief im Krankenhaus an. Nannte ihren Namen und Dienstrang. Und erkundigte sich nach Kelley Morgans Zustand. Er sei unverändert, teilte eine Krankenschwester ihr mit. Die junge Frau liege immer noch im Koma. Sie würde wahrscheinlich überleben, aber niemand traue sich eine Prognose zu, ob sie je wieder aufwachen und ein normales Leben würde führen können.
Seufzend beendete Dance das Gespräch.
Und wurde wütend.
Sie nahm den Hörer
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