Almas Baby
mehr an den Fingern seiner Hände abzählen. Trotzdem gab es auch für ihn immer noch Dinge, die ihren Horror auch nach langer Zeit nicht verloren hatten. Dazu gehörte beispielsweise die Pflicht, Angehörigen mitzuteilen, dass sie den Menschen, den sie liebten und schmerzlich vermissten, für immer verloren hatten. Die Erstarrung im Leid oder die Ausbrüche der Verzweiflung verfolgten ihn regelmäßig nächtelang. Im Krankenhaus, bei Katja Storm, konnte er wenigstens noch Hoffnung verbreiten. Eine schwache zwar, aber immerhin. Er redet gegen die Sprachlosigkeit der Mutter an, erzählt von den Parallelfällen mit glücklichem Ausgang. Hörte die Frau ihm überhaupt zu? Tröstende Worte können ihr nicht helfen. Sie will Taten - Taten, die ihr das Kind zurückbringen. Dem Hauptkommissar kam es vor, als rede er gegen die sprichwörtliche Wand. An Katja Storm prallte alles ab. Es schien, als sei jede Lebendigkeit aus ihr gewichen.
„Sie glaubt, diese Entführung ist ihre Strafe, weil sie das Kind eigentlich nicht gewollt hat,“ erklärte Jens Storm dem Hauptkommissar draußen auf dem Krankenhausflur. „Sie müssen wissen, wir haben bereits einen vierjährigen Sohn. Es war damals eine schwierige Geburt. Die Sauerstoffzufuhr war zeitweilig unterbrochen. David kam behindert zur Welt. Katja hatte Angst, alles könnte beim zweiten Mal wieder so enden. Wissen Sie überhaupt, was es bedeutet, ein behindertes Kind zu haben? Ständig die Sorge, was aus ihm werden soll, wenn Sie selbst einmal nicht mehr da sind. Nicht, dass wir es nicht lieben würden. Wir lieben David sogar sehr. An seinen Zustand haben wir uns längst gewöhnt. Dass er behindert ist, bringt uns eigentlich nur noch die Reaktion der Öffentlichkeit ins Bewusstsein. Gehen Sie mal mit einem behinderten Kind durch die Stadt. Die Leute, die es anstarren oder sich bemühen, möglichst diskret wegzuschauen. Das Tuscheln hinter Ihrem Rücken. Neulich wollte ein wohlgeratenes Bürschchen im Vorübergehen lautstark von seiner Mutter wissen, warum der Junge an Katjas Hand denn so komisch aussehe. Katja hat danach den ganzen Nachmittag geweint. Kinder sind grausam. Und was werden sie erst mit David machen, wenn er nicht mehr ausschließlich an Katjas Hand laufen will? Was sollen wir tun, wenn David in die Pubertät kommt? Möglicherweise haben dann die Mütter der Mädchen in seinem Umkreis sogar Angst vor ihm.“ Der junge Vater schlug verzweifelt die Hände vors Gesicht und fuhr nach kurzer Pause fort: „Aber wissen Sie, was das Schlimmste ist? Das Mitleid, das sich im Gesicht eines fast jeden Menschen widerspiegelt, der uns zusammen mit David sieht. Aber vielleicht ist es ja gar kein Mitleid. Vielleicht fragen sich die Leute, was eigentlich mit uns nicht stimmen mag, dass wir so ein Kind bekommen haben. Irgendwer oder irgendwas muss doch ursächlich für Davids Zustand sein. Sie halten uns für schuldig. Und wen kann es da wundern, wenn auch Katja sich selbst insgeheim die Schuld an Davids Zustand gibt.“
Karl Hammer ließ ihm Zeit, sich seine Verzweiflung von der Seele zu reden. Warum musste nur alles immer gleich doppelt kompliziert sein? Er bot Jens Storm an, ihm einen Kaffee zu besorgen. Als er mit zwei Plastikbechern vom Automaten zurückkam, schien sich der Vater gefasst zu haben. „Entschuldigung, es geht schon wieder“, sagte er leise und nahm einen Schluck aus dem Pappbecher.
„Wir haben lange überlegt, ob wir das Risiko eingehen oder eine Schwangerschaftsunterbrechung für uns infrage kommen könnte. Aber obwohl wir uns gemeinsam für das Baby entschieden haben, blieben bei Katja immer Zweifel. Sie konnte die Angst nicht besiegen - mit dem Bild von David vor Augen. Sie hat selbst den Ergebnissen der Vorsorgeuntersuchungen misstraut, die alle ausgesagt haben, dass Friederike ein gesundes Baby sei. Aber das war unser Sohn ja zunächst auch. Es gab keinen genetisch bedingten Defekt. Der Schaden entstand unter der Geburt. Als Friederike dann auf der Welt war - gesund! Was für ein Glück! Und jetzt?“
Jens Storm schlug wieder die Hände vors Gesicht, um seine Tränen zu verbergen. „Bitte finden Sie unser Baby. Bitte. Ich weiß sonst nicht, was passieren wird.“
Karl Hammer legte ihm die Hand auf die Schulter und wandte sich ab. Der übliche Satz „wir werden alles tun, was in unserer Macht steht“ erschien ihm platt und unangebracht. Er sagte ihn trotzdem, weil ihm nichts anderes einfiel, und ging dann mit schweren Schritten den Gang
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