Alpendoener
bezeichnete, schon ziemlich oder was heißt ziemlich, dass es halt noch normal
war. Nach und nach war ihm das Zeug aber lästig geworden oder albern
vorgekommen – er hatte es weggeschmissen. Einer der wenigen Sätze, die ihm
geblieben waren, die ihm hin und wieder noch ein Ziehen in der Seele
verursachten, war einer des Griechen Aristoteles: ›Wegen des Staunens haben die
Menschen angefangen zu philosophieren.‹ Birne sah in dem Satz eine
Aufforderung, sich für alles interessieren zu müssen, nicht weil er Philosoph
werden wollte – der Zug war abgefahren –
nein, weil der, der nicht staunt, ein Nicht-Philosoph ist und früher oder
später zum Depp wird. Ein Depp wollte Birne nicht sein, das wollte keiner sein.
Keiner hält sich selbst für bescheuert. Man merkt aber auch nicht, wenn man
bescheuert wird. Jedem kann es passieren, schon lange vor Alzheimer und dann –
Scheiße – zeigen die Jungen mit Fingern auf einen im Bus und man meint, es
liege am neuen Hut oder einem Zahnpastarest im Mundwinkel, dabei wird man für
einen Depp angesehen und ist zufrieden mit einer Zahnpastaerklärung, wo man doch
am gescheitesten sofort anfinge, an sich zu arbeiten, dass der Depp rausgeht
aus einem.
Andrerseits hat kein Mensch die Zeit, sich für alles zu
interessieren, außer vielleicht beim Warten auf den Bus, wenn er lange nicht
kommt und die Langeweile Gestalt annimmt und die Werbung ohne schöne Frau auf
dem Plakat auskommt. Eine Zeitung komplett durchzulesen, entzöge einen dem
Alltag, dann existierte man nur noch zwischen Papier und Druckerschwärze, was
an sich nicht die schlechteste aller Daseinsformen wäre, man müsste sich nur
trauen.
Birne blätterte durch diese erste Zeitung in der
neuen Stadt – es war da draußen außerhalb seines kleinen Kosmos nichts, absolut
nichts von Belang passiert. Birne freute sich trotzdem an jeder Kleinigkeit, er
roch an jedem Artikel, bevor er ihn las. Er führte ordentlich und ausgiebig ab,
er genoss dabei dermaßen seine Lektüre, dass er vom Geruch der eigenen
Exkremente beinahe nichts mitbekam. Er las folgende völlig unspektakuläre
Geschichte:
Noch vor 20 Jahren, in den 80er-Jahren des vergangenen
Jahrhunderts, beherrschte ein Thema unsere Medien wie heute die Klimaerwärmung:
Deutschland und die gesamte westliche Zivilisation war drauf und dran, im Müll
zu ersticken, die Müllberge wuchsen ins Unermessliche und drohten umzukippen und
ganze Landstriche unter sich zu begraben. Man schalt die Medien, dass sie aus
Mücken Elefanten machten, jede Kleinigkeit ausschlachten, bis der letzte Leser
übersättigt abwinkt, doch in dem Fall hat es was genutzt: Die Menschen haben
umgedacht, sie haben begonnen, Müll einzusparen, sie recyceln – dieses Wort
wurde damals geboren – und sie trennen ihren Abfall, was eine Menge ausmacht.
Immerhin müssen wir über Müll schon lange nicht mehr reden, wir haben den Kopf
frei fürs Klima, wir können anderes anpacken.
Doch das ist zu schön gedacht. Leider. Immer mehr macht
sich der Schlendrian breit. Müllmänner aus der ganzen Republik klagen über
verschmierte Joghurtbecherdeckel im Papiermüll, Essensreste, ja und sogar
echte Tierleichen im Gelben Sack. »Wenn wir so weiter machen, fallen wir zurück
in die Steinzeit der 60er- und 70er-Jahre«, sagt ein Sprecher der Stadtwerke
München. Die Bundesregierung will jetzt handeln. Müllsünder sollen ab heute
stärker bestraft und vor allem strenger kontrolliert werden. Die Mülldetektive
sind unterwegs und sie verhängen saftige Ordnungsgelder, damit uns in Zukunft
nicht die Vergangenheit einholt.
Birne schüttelte seinen Kopf und spülte.
Sein erster Akt im Büro war der Gang mit der
Schokolade zum Chef. Der hatte kaum aufgeblickt, einen dunkelblauen Anzug
angehabt, »Guten Morgen« und »Das ist nett, stellen Sie es dorthin« gesagt und
nicht mehr gesprochen vom Vorfall.
Birne war heute fleißig und eifrig, wollte ihnen
zeigen, dass das gestern eine Ausnahme war und am Bier von vorgestern gelegen
hatte. Heute zeigte er es ihnen richtig.
Erst gegen 11 Uhr wurde er ein bisschen müde und
wäre eingenickt, wenn er sich nicht zerstreut hätte. Er besuchte eine
Video-Seite im Internet, schaute sich eine Heavy-Metal-Band an, die ihm in der
Früh im Feuilleton seiner Zeitung anlässlich ihrer neuen Platte empfohlen
worden war und stolperte dabei auf ein paar Jungs, die sich selbst mit dem
Handy gefilmt hatten, wie sie sich
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