Alphawolf
erneut ein Stück getrocknetes Fleisch ab. «Erinnerst du dich gar nicht? Dein Totemtier ist der Wolf.»
«Mein Totem?» Hitze stieg in Talas Wangen, weil sie sich schämte, viele kulturelle Aspekte vergessen zu haben, selbst die, die sie persönlich betrafen. Ein Totem war sehr wichtig. Es hieß, dass man die Kraft des Tieres einsaugen und in sich aufnehmen konnte, um sie für kurze Zeit zu nutzen. Wie ein Mensch, der sich in einen Wolf verwandeln konnte.
Onawa schob das Fleisch schmatzend in die andere Wangentasche. «Das Totem unserer Familie ist der Wolf, du hast es von uns geerbt. Wir hatten schon immer eine besondere Beziehung zu den Wölfen.»
Hatte sie deshalb die Sexualpheromone wahrnehmen können? Claws Pheromone! Aber weshalb nur seine? Es war beinahe so, als würde eine unsichtbare Verbindung zwischen ihnen bestehen.
«Als du vielleicht drei Jahre alt gewesen warst, hatten wir dich mit in die Wälder genommen», fuhr ihre Großmutter fort. «Als wir dich einen Moment unbeaufsichtigt ließen, warst du plötzlich von Wölfen umstellt. Es war ein kleines Rudel, zugegeben, aber für dich Zwerg müssen die Tiere Monster gewesen sein.»
Tala fasste sich an die Kehle, als würde sie noch immer Claws Griff spüren, als er sie bei ihrer ersten Begegnung bedroht hatte – der ersten Begegnung in Menschengestalt. Vor ihrem geistigen Auge tauchte der schwarze Timberwolf auf.
Onawa legte das Dörrfleisch weg, als wäre ihr auf einmal übel geworden, nun da sie sich die furchteinflößende Situation wieder in Erinnerung rief. «Doch du hast die Hand nach ihnen ausgestreckt, wolltest durch ihr Fell streicheln und warst so voller Zuneigung zu diesen Tieren, dass sie es gespürt haben mussten. Sie liefen weg. Bis auf einer. Er schnupperte an deiner ausgestreckten Hand. Dann trottete er den anderen hinterher. Von dem Augenblick an wussten wir alle, dass wir deinen Namen richtig ausgewählt hatten.»
«Das Totem war mein Schutz?», wollte Tala zögerlich wissen.
«Wir hatten schon immer einen Heidenrespekt vor Wölfen – die Athabascan und deine Familie insbesondere –, aber du, Tala, hast eine außergewöhnliche Beziehung zu ihnen. Ich weiß, du denkst, das ist das Geschwätz einer alten, abergläubischen Frau, aber eines Tages wirst du mir glauben.» Unvermittelt fragte sie: «Möchtest du auch ein Glas Wasser?»
Tala nickte und folgte ihr in die kleine Küche, die gegenüber dem Verkaufsraum lag, und beobachtete, wie ihre Granny zwei Gläser mit Leitungswasser füllte. Niemals hätte sie Geld für Mineralwasser in Flaschen ausgegeben. Zum einem empfand sie es als Verschwendung, zum anderen hatte sie wenig Geld.
«Wölfe lieben ihre Freiheit», sagte Onawa und reichte Tala ein Glas. «Deshalb habe ich dich, ohne zu murren, nach Anchorage ziehen lassen, um dich eines Tages mit offenem Herzen wieder bei mir aufzunehmen. Unsere Stammesmitglieder werden sich über dein erwachendes Interesse für unsere Kultur freuen.»
Vorsichtig schüttelte Tala ihren Kopf. «Ich bin nicht heimgekehrt.» Ihre Großmutter sollte keinesfalls denken, sie würde zu ihr ziehen, um am Leben der Athabascan teilzunehmen. Sie mochte ihr Leben in Anchorage, die Arbeit mit Walt und die Möglichkeit, zwischen Moderne und Kultur hin- und herzupendeln.
Onawa neigte sich vor und flüsterte verschwörerisch: «Im Herzen schon.» Lauter fügte sie hinzu: «Das reicht mir fürs Erste. Es ist ein Anfang. Komm, setz dich.»
Tala nahm hinter einer Werkbank Platz, auf der einige Lederstücke, Perlen und Fäden lagen, aus denen Mokassins für die Touristen gefertigt wurden.
Ihre Granny zog einen Stuhl heran, der für die Besucher bereitstand, die bei der Fertigung zusehen durften, und setzte sich darauf. «Willst du wissen, was es bedeutet, den Wolf als Totemtier zu haben?»
Eigentlich wollte Tala das nicht, denn es war wie mit Horoskopen: Ein Teil der Aussagen traf immer zu, was die ältere Generation dazu veranlasste, daran zu glauben. Doch es lag ihr fern, ihre Großmutter zu verletzen, daher nickte sie und trank einen Schluck.
Onawa rollte ihr Glas zwischen beiden Handflächen hin und her. «Er prüft seine Mitmenschen lange, erst nach einiger Zeit fasst er Vertrauen und öffnet sich. Dann jedoch ist er ein Freund fürs Leben.»
Nun gut, das traf auf Tala zu, aber wohl auch auf Millionen anderer Menschen, die nicht einmal ein Totem-Tier besaßen.
«Er ist rastlos, immer auf der Suche und besitzt einen scharfen Verstand und eine schnelle
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