Alphawolf
Auffassungsgabe.»
Der Blick ihrer Großmutter war bohrend. Erwartete sie Zustimmung? Tala gab zu, noch auf der Suche zu sein. Sie hatte ihren Platz im Leben noch nicht gefunden, wie viele junge Menschen. Aber das mit dem scharfen Verstand konnte sie nicht bestätigen, da sie ihren Augen nicht hatte trauen wollen, als sie Dante das erste Mal gesehen hatte und die Situation im Alaska Native Medical Center völlig falsch eingeschätzt hatte.
«Man sagt ihm soziales Engagement nach.» Onawa nahm einen großen Schluck und stellte ihr Glas geräuschvoll ab, als wollte sie damit sagen: So, nun weißt du es. Das alles trifft auf dich zu.
Wenn man Wild Protection als soziales Projekt betrachteteᅠ…
Aber Granny war noch nicht fertig. «Er sucht lange nach einem Partner, aber wenn er ihn einmal gefunden hat, bleibt er für immer mit ihm zusammen.»
Tala errötete. Warum musste sie unweigerlich an Claw denken? Er hatte rein gar nichts mit diesem Gespräch zu tun. Hier ging es erst einmal nur um sie selbst. Doch er schlich sich immer wieder in ihre Gedankenwelt, wie ein Wolf, der bei der Jagd auf seine Beute nicht lockerließ.
«Hast du jemanden kennen gelernt?», fragte Onawa schmunzelnd, denn Talas Verlegenheit war ihr nicht entgangen.
Unwirsch schüttelte sie den Kopf. Sie spielte die Naive und lenkte von sich ab: «Wie war das früher, als sich unsere Jäger mit Wolfsfellen tarnten?»
Enttäuscht aufgrund ausbleibender Liebesgeständnisse lehnte sich Onawa zurück. «Die Männer warfen sich die Felle über, damit das Wesen des Wolfs auf sie überging. Dadurch wurden sie unsichtbar und konnten sich zum Beispiel an eine Bisonherde heranschleichen, ohne von ihr bemerkt zu werden.»
«Glaubten sie wirklich, dass sie eins wurden mit dem Tier?» Die Skepsis in Talas Stimme war unüberhörbar, aber sie fürchtete sich gleichzeitig vor der Antwort.
Pikiert hob Onawa ihre Augenbraunen. «Es war so und ist heutzutage immer noch so.»
Der Glaube versetzt Berge, dachte Tala zweiflerisch, und bohrte tiefer: «Waren sie Gestaltwandler?» Sie hielt die Luft an.
Granny lächelte. «So könnte man es nennen.»
Tala neigte sich vor und runzelte ihre Stirn. «Aber die Jäger verwandelten sich doch nicht wirklich von Menschen in Wölfe.»
«Das liegt im Auge des Betrachters.»
Ihre Großmutter konnte manchmal richtig stur sein, fand Tala. Sie setzte alles auf eine Karte, auch wenn sie Gefahr lief, sich lächerlich zu machen – oder die Wahrheit zu erfahren. «Die Jäger der Athabascan waren also so etwas wie Werwölfe, ja?»
Onawa lachte schallend. Sie legte beide Hände auf ihren fülligen Bauch und wischte sich dann eine Träne aus dem Augenwinkel. «Nein, beileibe nicht. Werwölfe sind ein Mythos, die Kultur der Athabascan dagegen lebendig und real.»
«Natürlich», murmelte Tala. Ihr war ihre letzte Frage im Nachhinein höchst peinlich. Deshalb stand sie auf und ging zu einem Bilderrahmen, der neben der Tür hing, damit ihre Granny nicht sehen konnte, wie feuerrot ihr Teint war. In dem Rahmen steckte kein gemaltes Bild, auch kein Foto, sondern ein Spruch der kanadischen Autorin und Schamanin Oriah Mountain Dreamer:
Es interessiert mich nicht,
womit du deinen Lebensunterhalt verdienst.
Ich möchte wissen,
wonach du innerlich schreist und ob du zu träumen wagst, der Sehnsucht deines Herzens zu begegnen.
Es interessiert mich nicht, wie alt du bist.
Ich will wissen, ob du es riskierst, wie ein Narr auszusehen,
um deiner Liebe willen, um deiner Träume willen und
für das Abenteuer des Lebendigseins.
Weiter las Tala nicht, weil Claw sich schon wieder in ihre Gefühlswelt stahl. Sie erschauerte, als könnte sie ihn damit abschütteln, aber er blieb an ihr haften wie ein schweres aufdringliches Parfüm.
Onawa trat hinter sie. «Die Menschen verlieren ihren Glauben und ihren Respekt, in meinen Augen ist das der größte Verlust, der sich eines Tages böse rächen wird.»
«Was meinst du damit?» Das Gesicht ihrer Großmutter spiegelte sich in der Scheibe des Bilderrahmens. Tala sah Onawas Spiegelbild fragend an.
«Deine Generation glaubt an die Wissenschaft, an harte Fakten und an Wohlstand. Ihr vergesst eure Kultur, und ich spreche nicht nur von den Indianern.» Sie seufzte leise. «Bald wird es nur noch die kalte Realität geben, weil ihr euch nichts mehr anderes vorstellen könnt als das, was ihr seht und was wissenschaftlich bewiesen ist. Doch es gibt noch eine andere Wahrheit, eine andere Realitätsebene, die
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