Alptraum-Sommer
Hand. Langsam hob er es an, bis es sich in seiner Augenhöhe befand und sie sich anblicken konnten.
Die Alraune bewegte ihre Augen wie ein Mensch. Das Wurzelmaterial fühlte sich etwas rauh und knotig an, als hätte es eine Nagelpfeile bearbeitet. Aber sein Inneres war nicht kalt. Es strömte die Wärme einer normalen Haut aus. Unter dieser Schale floß und bewegte sich etwas.
Eine warme Flüssigkeit, vergleichbar mit einem Saft oder Lebenssaft, auch Blut genannt.
Von zwei verschiedenen Seiten her strich Kelly mit den Daumenkuppen über die Frontseite des kleinen Wesens. Eine zärtliche Berührung, und die Alraune produzierte so etwas wie ein feines Lächeln. Um ihren Mund herum bildete sich ein Muster aus winzigen Falten, das rasch wieder verschwand, als es die Lippen aufeinanderlegte.
»Bringst du mich jetzt zu ihr?« flüsterte Kelly.
»Ja, laß uns gehen.«
»Und wohin?«
»Du mußt nur tun, was ich sage, kleiner König. Dann wird alles so werden, wie du es dir vorgestellt hast.«
Kelly nickte. »Gern.«
Er bekam die ersten Anweisungen. »Geh an dem Tümpel vorbei und dorthin, wo sich die Bäume lichten und nicht mehr so dicht zusammenstehen. Da wirst du dein Glück erleben.«
Kelly jubilierte innerlich. Wie sich das anhörte. Glück erleben. Das war mehr, als er zu hoffen gewagt hatte. Wie oft hatte er davon geträumt, tage- und nächtelang. Eingeschlossen in seinem Zimmer, doch seine Gedanken waren auf die Reise gegangen und hineingetaucht in die Welten der Phantasie, die nun endgültig zu einer Wahrheit für ihn werden sollten. Das konnte er kaum fassen.
Sie passierten den Tümpel an der rechten Seite und hielten den direkten Kurs bei, um dorthin zu gelangen, wo der Wald so etwas wie eine Lichtung bildete, die trotzdem stark bewachsen war, allerdings von niedrigeren Büschen und Sträuchern.
Kelly hielt den Wichtelmann wie eine Mutter ihr Baby im Arm. Er gab acht, daß er nicht stolperte und womöglich noch hinfiel. Es wäre furchtbar gewesen, wenn dem Kleinen ein Leid geschehen wäre.
Über ihnen war der Himmel bisher eine Kappe aus dunstigem Licht gewesen. Dieser Dunst war nun verschwunden. Die Klarheit des Sommers brach durch, die Wärme verschaffte sich freie Bahn und trieb dem Jungen den Schweiß auf die Stirn.
Das Licht war grell, es flimmerte vor seinen Augen, da baute sich etwas auf, das es nicht gab. Er sah die hellen Gestalten, wunderschöne Gesichter, seine Prinzessin in mehrfacher Ausführung, und als er nach ihr rufen wollte, da waren die Gestalten wieder verschwunden und hatte dem Kreis der Sonne Platz geschaffen.
Es waren die Wunschträume des Jungen. Er konnte noch immer nicht fassen, daß sie sich bald erfüllen sollten.
Die Prinzessin, seine Prinzessin…
Dann hörte er die Stimme der Alraune. »Wir sind da, mein Freund.«
Der Junge blieb stehen. Er öffnete die Augen. Grelles Licht blendete ihn.
Hitze umwaberte seinen Körper. »Wo ist die Prinzessin?« erkundigte er sich mit flüsternder Stimme.
»Ganz in deiner Nähe…«
»Ich sehe sie nicht.«
»Du mußt es eben lernen, noch zu sehen, mein kleiner König. Aber jetzt triff deine Vorbereitungen und zieh deine Kleider aus. Dann mußt du genau tun, was ich dir sage…«
***
Ich spürte unter mir das harte Holz der Sitzbank und dachte daran, daß meine Trennung von Suko erst einige Minuten zurücklag. Mir kam es vor, als wären Stunden vergangen. Es mochte auch daran liegen, daß diese neue Umgebung für mich völlig fremd war und ich es auch nicht geschafft hatte, mich daran zu gewöhnen.
Trotz seiner ersten Einladung war ich nicht sehr begeistert aufgenommen worden, denn Patrick O’Hara hatte mir sehr schnell erklärt, daß er noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hätte.
»Dabei will ich natürlich nicht stören«, sagte ich ihm und hatte mich trotzdem hingesetzt.
»Ach, es macht auch nichts. Im Augenblick jedenfalls nicht.« Er winkte mit beiden Händen ab.
Auf den ungewöhnlichen Blutgeruch war er nicht eingegangen. Nach wie vor hing er zwischen den Wänden. Ich wollte nicht sagen, daß ich diesen Geruch tagtäglich wahrnahm, aber ich kannte mich aus. Schon zu oft hatte ich ihn riechen müssen.
Sein Haus – oder dieser Raum nur – war seltsam eingerichtet. Mehrere kleine Fenster ließen verhältnismäßig wenig Licht herein, doch die Strahlen konzentrierten sich auf bestimmte Orte, die ich als Arbeitsplätze identifizierte.
Ich war zwar kein Fachmann, aber der Raum glich eigentlich der Werkstatt eines
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