Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
über seine Frau spricht. Das kann nicht sein.«
»Du bist ein großer Romantiker, wirklich.« Virginie lächelte. »So wie du guckst.«
»Wie gucke ich denn?«, erwiderte Thibault, der so tat, als wäre er verärgert.
»Du weißt, dass es Poeten gibt, die völlig durchgeknallt sind und Morde begehen.«
»Klar, wenn man lange genug sucht, findet man immer was ... Ach, weißt du, man darf auch nicht zu schwarzsehen, sonst wird man ja verrückt. Denn genau das ist das Problem unserer Welt.«
»Erkläre mir das Grundproblem unserer Welt«, forderte Virginie ihn mit verschmitzter Miene auf.
»Ja, genau, ich erkläre es dir. Das Problem ist, dass die ganze Welt verrückt ist. Weil einer eine Macke hat, lässt du neunundneunzig andere Typen mit offenem Mund und gebrochenem Herzen krepieren, die es nicht verdient haben. Weil es unter den vielen Menschen einen gibt, der so etwas verdient hat. Wirklich eine beschissene Bilanz. Wir leben in einer Gesellschaft von Neurotikern. So viel steht jedenfalls fest, und das finde ich echt schlimm. Denn was lehrt das Leben uns eigentlich? Wenn du mal jemandem hilfst, den du nicht kennst, was macht der Typ dann? Der Typ sagt danke. Das war’s. Vielleicht quatscht man ein bisschen und freundet sich sogar an. Die Erde dreht sich weiter, und das ist cool. Läuft’s nicht so im wahren Leben? Ja, vielleicht, aber weißt du, es gibt die Gesellschaft, die Medien und das ganze Zeug, und alle sagen dir, wenn du mit deinem Nachbarn sprichst,wirft er dir eine Atombombe in die Fresse und kidnappt deine Kinder. Du glaubst das alles, verbarrikadierst dich und hilfst den Alten nicht mehr, die dich um einen Gefallen bitten. Hab ich nicht recht?«
»Schon ...«
»Und außerdem«, fügte Thibault hinzu, »ist dieser Typ achtzig, verstehst du? Kannst du dir vorstellen, wie er ...?«
Er stand auf und mimte mit akustischer Untermalung eine gruselig anmutende Szene aus dem Kettensägenmassaker mit einem achtzigjährigen Hauptdarsteller.
Virginie brach in schallendes Gelächter aus.
»Ich habe nicht behauptet, dass du unrecht hast«, räumte sie zögernd ein. »Trotzdem ist es eine vertrauliche Information, um die er dich bittet. Es geht um mehr als einen kleinen Gefallen.«
»Vertrauliche Information! Das ist doch auch wieder so eine unglaubliche Heuchelei«, rief Thibault. »Sieh mal, Virginie.« Er hob den Blick zum Himmel und zeigte mit dem Finger auf die Sterne.
»Sag hallo, Virginie.«
Laut lachend beobachtete Virginie Thibault, der die Arme winkend zum pechschwarzen Himmel ausstreckte.
»Sag hallo. Glaub mir, die CIA beobachtet dich. Hallo, ihr bösen Buben.«
Virginie brach wieder in Lachen aus. Mit engagierten und rebellischen Parolen, die durch die kleine Straße hallten, setzte Thibault zu einer weitschweifigen Erklärung über die lächerlichen Rechte an, die vom System verletzt wurden. Es gäbe keine Freiheit mehr, und es wäre der Gipfel, dass man in diesem Jahrhundert, wo der Individualismus fast so eine Art Religion geworden war, nicht mehr das Recht zur Individualität hätte. Es gäbe kein Privatleben mehr, alles war bekannt, die Webcams würden sogar dann laufen, wenn gar niemand vor den Computern säße, und Anrufe auf Handys würden kontrolliert. Das wäre die Schuld des FBI, der multinationalen Unternehmen, der Ölscheichs, der Politiker, der Fernsehrealität, der Chinesen, des Internets und so vieler anderer, die ihr Unwesen im Verborgenen trieben. Und wie so viele andere auch beendete Thibault seinen ebenso wirren wie engagierten Monolog, indem er über die Liebe sprach.
»Scheiße, ich meine, wenn es keine Liebe mehr gibt, was bleibt dann noch? Vielleicht werde ich wegen meiner Prinzipien gefeuert, aber ich schicke dem Alten trotzdem ihre Adresse.«
»Hm, verstehe. Ich hatte recht. Du bist ein großer Romantiker.«
»Hör auf mit dem Quatsch.«
Eine Heuschrecke setzte sich auf Thibaults Schulter. Er zuckte zusammen, sprang auf und schlug wild um sich, um den ungebetenen Gast zu vertreiben. Virginie konnte sich vor Lachen kaum halten. Als Thibault den beflügelten Angreifer vertrieben hatte, setzte er sich wieder hin und bemühte sich nun um die Miene eines Mannes, dem nichts und niemand etwas anhaben kann.
»Aber du hast ihre Adresse ja gar nicht. Dann brauchen wir auch nicht weiter darüber zu diskutieren«, sagte Virginie.
Mit triumphaler Miene zog Thibault einen Zettel aus der Tasche.
»Siehst du, sie ist überhaupt nicht verschwunden, sondern hat sich bei
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