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Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Titel: Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
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Windstöße, die ihre schönen Vasen an den Rand des Tisches verbannten. Wie die Familientreffen, bei denen nur geschwiegen wurde. Wie ihre Ehe. Wie der Augenblick, als sie geflohen war. Wie dieser Tag im Jahre 1953, als sie nicht geflohen war. Wie so viele Tage und wie jeder einzelne Tag ihres Lebens. Wie das, was sie Marcel nicht sagen konnte. Wie ihr Leben als Hausfrau. Wie der Haushalt, den sie verlassen hatte. Wie die Idee, ihr Leben mit dreiundsiebzig Jahren noch einmal von vorn zu beginnen. Wie die Liebe ihrer Mutter. Wie der Aufenthalt auf dieser Insel, die nicht ihre war. Wie die Rolle, die sie als Frau spielen musste. Wie der Wunsch, eine andere sein zu wollen. Wie ihr Leben und wie dieses Gesicht, das sie heute Morgen so sorgfältig geschminkt hatte. Doch nun liefen ihr Tränen über die Wangen und ruinierten das Make-up.
    Plötzlich übernahmen die schmutzigen Geschirrtücher, die an hässlichen Haken hingen, der Zwiebelgeruch, der sich monströs ausbreitete, und das Fett, das auf dem Fliesenboden klebte, die Vorherrschaft in der Küche. Angespornt durch die überall lauernde Angst hoben sie den Vorhang vor der unwürdigen Absurdität dieses kaum begonnenen neuen Lebens. Die alte Dame, die mitten in der Küche saß, stellte fest, dass sie keine andere sein konnte.
    Trotz der Erinnerungen, die sie sich in den letzten Wochen eingeprägt hatte, würde sie niemals so sein wie Nane. Sie konnte sich in ihre Sessel setzen, ihre Bücher lesen und fluchen wie ein Kutscher ... Das hatte sie doch getan, nicht wahr? Konnte sie sich damit herausreden, es nicht bemerkt zu haben? Nein, sie war dazu verdammt, diejenige zu bleiben, die sie vorher war. Dieses Vorher, das am 23. September 1953 begann, dem Tag, über den sie niemals sprechen konnte.
    Jacqueline sprach all diese Worte nicht laut aus. Ihre Lippen hatten sie zwar geformt, aber sie verloren sich zwischen Seufzern, es mussten wohl ziemlich traurige Dinge gewesen sein. Ziemlich traurig, sagte sich Matthis ein wenig ängstlich, der sich hinter der Tür versteckte.
    Inzwischen suchte Nane den Fotoapparat in Jacquelines Gartenhaus. Sie fand ihn. Und sie fand auch die rosarot schimmernden Scherben der Schäferin aus Alabaster hinten in der Schublade.

29
    »Mama, Mama, Mama!«, rief Matthis und zog an Armindas Ärmel. »Mama, Jacqueline sitzt in der Küche und weint.«
    Arminda vergaß ihre Wut und eilte hinaus. Wie ein Häufchen Elend saß Jacqueline mit geröteten Augen und einem aschfahlen Gesicht mitten in der Küche.
    »Was ist passiert, Jacqueline?«
    »Sie müssen Matthis sofort zur Konditorei schicken«, bat Jacqueline und sprang vom Hocker auf. »Mit dem Fahrrad ist er in einer Minute da. Pass auf, Matthis, du nimmst, du nimmst fünf Opéras oder Forêts Noires oder etwas anderes mit viel Schokolade«, sagte sie und wühlte mit zitternden Fingern in ihrem Portemonnaie.
    »Ah, Sie haben Mousse au Chocolat gemacht! Sie hätten sie in kleine Auflaufformen füllen sollen. Das wäre einfacher gewesen ...«
    »Nein!«, schrie Jacqueline mit sich beinahe überschlagender Stimme. »Ich wollte sie auf Tellern servieren, und sie ist misslungen. Matthis, du musst dich beeilen ...«
    »Hören Sie, Jacque...«, begann Arminda, doch Nane, die mit dem Fotoapparat in der Hand eintrat, unterbrach sie.
    »Was ist passiert?«
    »Jacquelines Dessert ist misslungen«, erklärte Arminda ihr. »Ich finde aber, es sieht lecker aus.«
    Nane musterte Jacqueline, die das Gesicht abwandte, um sich mit der Schürze die Tränen abzuwischen. Dann schaute sie auf das Dessert, das schuld an dem Dilemma war. In der Küche herrschte Ausnahmezustand. Alle spürten die heraufziehende Gefahr. Plötzlich stieß Nane ihren alten arthritischen Zeigefinger in die Schokoladenmasse.
    »Die Mousse schmeckt fantastisch!«
    »Nein, schmeckt sie nicht!«, schrie Jacqueline, der wieder Tränen in die Augen stiegen. »Sie ist überhaupt nicht so geworden, wie sie sein sollte. Du, du, du hörst nicht zu!«
    »Mama, sieh mal«, sagte Matthis. »Das sieht aus wie ein Kuhfladen mit einer Blume drin!« Kaum waren ihm die Worte entschlüpft, presste Matthis die Lippen aufeinander und ging zu seiner Mutter. Er war erst sechs, aber er wusste, dass er das nicht hätte sagen dürfen.
    Nane und Arminda standen reglos da und schafften es nur mit Mühe, ihr Lachen zu unterdrücken. Mit bangen Blicken musterten sie Jacqueline, die noch immer aschfahl war und sich nicht von der Stelle bewegte. Und dann zerriss Eugenes

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