Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
beobachtete sie eine Weile. Sie hörte, dass eine Großmutter rief: »Kiki, zieh deine Sandalen an«, und sie wurde Zeuge einer ungeschickten Partie Federball und des abenteuerlichen Kaufs einer Waffel mit Schokocreme. Aber heute Morgen war es anders.
An diesem Morgen leuchtete alles in dem goldenen, schummerigen Licht, das Jacqueline auf der Lichtung im Kiefernwald und auch bei der Abenddämmerung in Port de la Meule bewundert hatte: das Meer, alle Farben der Natur und auch ihr Körper. Sie strich über ihren Schatten auf dem warmen Sand und ließ die weißen Körnchen durch die Finger rieseln.
»Als meine Mutter gestorben ist, wusste ich nicht mehr, was ich essen sollte.«
Wie so oft betrachtete Nane ihre Cousine nur schweigend, ohne etwas zu erwidern.
»Sie starb kurz vor meinem vierzigsten Geburtstag. Es ist verrückt, aber ich wusste nicht mehr, was ich essen sollte. Schließlich aß ich weiterhin nur Dinge, die angeblich die Fruchtbarkeit fördern. Weißt du, meine Mutter hat sich sehnlichst Enkelkinder gewünscht. Sie war von dem Gedanken geradezu besessen. Sie wollte um jeden Preis, dass ihre einzige Tochter schwanger wurde. Meine Mutter ließ nichts unversucht und wandte sich an Ärzte und Heilpraktiker. Vor allem aber empfahl sie mir, bestimmteKräuter, Pflanzen und Lebensmittel zu essen. All diese Geschichten, die sie hörte, dass eine Frau Soundso einen Jungen bekam, weil sie Austern gegessen hatte. Also musste ich in der Saison zu jeder Mahlzeit Austern essen. Weizenkeimöl, Leber ... Eine Zeit lang weckte sie mich mitten in der Nacht, damit ich Spargel aß ... Du weißt ja, wie sie war. Sie bestand darauf, mir genau aufzuschreiben, was ich essen sollte. Ich habe ihre schräge Schrift auf dem karierten Papier noch genau vor Augen. Ich war neununddreißig Jahre alt, als sie starb, und selbst mit neununddreißig sollte ich noch immer Sachen essen, die angeblich Wunder wirkten, wenn man schwanger werden wollte. Und ich ließ sie gewähren. Marcel wäre der Letzte gewesen, der sich darüber beklagt hätte. Es brach ihm das Herz, dass ich kein Kind bekam.«
Jacqueline strich wieder über den Sand.
»Ich weiß, dass ich dein Essen nicht gewürdigt habe. Es tut mir leid, aber ich habe seit fünfzig Jahren keinen Hunger mehr.«
Nane musterte ihre Cousine, doch Jacquelines Blick verlor sich in der Ferne.
»Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel ...«
»Natürlich nicht«, unterbrach Nane sie. »Natürlich nicht.«
Nane streckte sich auf der Bastmatte aus und legte den alten Strohhut auf ihre Augen. Sie hatte Jacqueline auch einen großen Strohhut in die Hand gedrückt, ehe sie gegangen waren, weil ihre Cousine geschimpft hatte, dass sie sich nicht der Sonne aussetzen wolle. Einen kurzen Augenblick war Jacqueline versucht, sich ebenso wie Nane einfach hinzulegen, doch sie wagte es nicht. Sie beobachtete wieder die Urlauber, die allmählich auf den Strand strömten.
Als Nane sich schließlich wieder hinsetzte, klebten in ihrem dünnen weißblonden Haar vertrocknete Algen. Jacqueline zog sie vorsichtig heraus.
»Oje, ich muss unbedingt zum Friseur. Schau dir meine Frisur an. Mit dieser Mähne sehe ich aus wie eine alte Närrin«, sagte Nane knurrend.
Jacqueline lächelte. »Du musst Arminda sagen, dass sie eine ausgezeichnete Köchin ist und dass es nicht an ihr liegt, dass ich so wenig esse. Ich habe einfach keinen Appetit ...«
»Wenn du Arminda etwas zu sagen hast, dann sag es ihr selber. Im Übrigen glaube ich, dass du ihr und ihrem Fischhändler bestimmt einiges zu sagen hast.«
»Du wusstest es?«
»Was wusste ich?«
»Dass sie mit Bruno zusammen ist.«
»Natürlich. Aber das geht mich nichts an. Ich will nur, dass Arminda bei mir wohnen bleibt. Alles andere ist mir schnurzpiepegal.«
»Wenn sie einen Freund hat, wird sie nicht ewig bei dir wohnen bleiben.«
»So sehe ich das auch: entweder der Job oder der Mann. Aber diese Entscheidung muss sie allein treffen.«
Jacqueline beobachtete die Kinder, die mit schwarzen Algen spielten. Nane riss sie aus ihren Gedanken. Sie wirkte angespannt.
»Ich will dir aber nicht verschweigen, dass ich mich anihrer Stelle nicht für den Mann entscheiden würde. Nicht für diesen.«
»Auf mich macht er einen netten Eindruck«, erwiderte Jacqueline.
»Er verkauft mir frischen Fisch. Mehr verlange ich von ihm gar nicht, und ich wäre froh, wenn das alles wäre. Jetzt wird es aber richtig heiß. Komm, wir fahren nach Hause.«
»Warum hast du dein Haus
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