Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman
Augenschein nehmen wollen.“
Sebastian nickte. „Das könnte man so machen“, sagte er. „Nach zehn kommen die kaum noch, wenn sie denn kommen. So war’s jedenfalls bei anderen.“
„Na gut“, beschied Hans-Peter, „dann eben 11.05 Uhr.“
„Was meinst du“, fragte Sebastian, „ob die Russen eingreifen werden?“
Beide saßen in der Nachmittagssonne auf den warmen Granitstufen vor der Haustür neben zwei etwas struppig gewordenen Lebensbäumen links und rechts.
„Die Russen? Na, wenn das um sich greifen würde, also Generalstreik überall, dann könnte die Regierung einpacken.“
Sebastian nickte. „Das Sagen haben allein die Russen. Wir werden’s ja sehen“, setzte er hinzu.
„Das kann zu Schießereien kommen“, gab Hans-Peter zu bedenken.
„Sicher, weiß ich. Das hat meine Mutter auch schon gesagt. Aber wollen wir uns deshalb hier verkriechen? Klar, in Großräschen wären wir ganz sicher. Hier geschieht gar nichts, wird nie was geschehen.“
42.
Als ihr Zug am nächsten Tag in den Lübbenauer Bahnhof einfuhr, glaubten die beiden noch mit dem nächsten Zug aus Richtung Cottbus nach etwa drei Stunden Berlin zu erreichen, das heißt Königswusterhausen, um dort in die S-Bahn umzusteigen. Der Personenzug aus Cottbus fuhr auch halbwegs pünktlich bremsenquietschend in den Bahnhof ein. Die Lok stand dann vor sich hin schnaufend am Bahnsteig, der Lokführer war im Bahnhofsgebäude verschwunden und blieb dort auch über die Abfahrtszeit hinaus. Dann kam er, kletterte wieder auf die Maschine und ließ fauchend den Dampf ab.
„Streik“, verkündete eine Lautsprecherstimme, „der Zug nach Berlin fährt nicht mehr weiter.“ Sebastian hatte bereits wiederholt auf seine Armbanduhr geguckt. „He! Streik“, sagte er, „ich dachte, das würde uns erst in Berlin begegnen.“
„Da kommen wir nun nicht mehr hin“, bemerkte Hans-Peter bedauernd.
Beide gingen auf dem Bahnsteig am Zug entlang und auch an der nun schon ruhig dastehenden Lokomotive vorbei. Sie dampfte nicht mehr, zischte und fauchte nicht und blockierte das Gleis, die Strecke nach Berlin.
„Die meinen das ernst“, sagte Sebastian. Dann sahen sie den Lokführer und danach den Heizer an der dem Bahnsteig abgewandten Seite aus der Lok klettern.
„Wo wollen die denn hin?“ fragte Hans-Peter.
„Wir gehen hinterher“, entschied Sebastian.
Der Bahnsteig wimmelte inzwischen von Menschen, die den bestreikten Zug verlassen hatten. Einige schleppten Gepäck, Rucksäcke und Taschen, auch Koffer mit sich und belagerten schließlich das Bahnhofsrestaurant, einen relativ kleinen, äußerst bescheiden eingerichteten Warteraum mit Biertheke sowie ein paar einfachen Holztischen und Stühlen, der die Menge der gestrandeten Fahrgäste gar nicht zu fassen vermochte. Aber niemand beklagte sich. Es war ja ein warmer, sonniger Tag und so saßen die Reisenden, die sich nicht in den überfüllten Warteraum drängeln wollten, auf Bänken im Schatten unter dem Bahnsteigdach angesichts ihres verlassen dastehenden Zuges.
Die beiden Freunde gingen indes quer über viele Gleise und Schottersteine den beiden Bahnern nach auf ein Reichsbahnausbesserungswerk zu, in das viele der Gleise führten und in dem auch die beiden Bahner verschwunden waren. „Wir gehen auch da rein, durch dieselbe Tür“, sagte Hans-Peter. Sebastian stimmte zu. Sie betraten eine hohe Halle. Durch viele verrußte Scheiben hoher Fenster fiel dort durch feinen Staub in breiten Bahnen das Sonnenlicht. Mehrere Loks, manche halb auseinandergenommen, standen herum. Von der Decke reichten Ketten und Stahlseile in die Halle hinab, in denen auch Lokteile hingen. Hohe Leitern standen herum und ein Pulk blau uniformierter Bahner, manche auch in ölverschmierten Overalls, stand über einen großen Werkstisch gebeugt, auf dem mit weißer Farbe auf den Stoff einer roten Fahne die letzten Buchstaben einer grundsätzlichen Aussage gepinselt wurden: NIEDER MIT DER REGIERUNG.
Dann griffen zwei Bahner nach je einer Stange, hoben das Spruchband in die Höhe und breiteten es aus. Der Pulk blauer Uniformen löste sich auf, niemand wunderte sich über die beiden jungen Zivilisten, die sich da unter sie gemischt hatten.
„Wo kommt Ihr denn her?“
„Großräschen“, sagte Hans-Peter.
„Was heißt das da eigentlich?“ fragte ein anderer und wies auf das ovale goldfarbene Forstabzeichen, das Sebastian am Revers trug.
„Forstwirtschaft“, sagte der, „Kreisforstamt Senftenberg in Altdöbern“,
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