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Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman

Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman

Titel: Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raimund August
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fügte er hinzu, als er sah, daß der Fragende damit nicht viel anzufangen wußte.
    Der nickte. „Ah ja, gut“, sagte er.
    Ein Zug von gut dreißig Bahnern formierte sich schließlich. Die, mit denen die beiden gesprochen hatten, setzten sich an die Spitze und mit ihnen gingen auch Sebastian und Hans-Peter. Als Sebastian sich umsah, direkt hinter sich das Spruchband NIEDER MIT DER REGIERUNG, war er dann doch verblüfft über die vielen Plakate und Spruchbänder, die dort noch hochgehalten wurden. Da ging es neben der Forderung nach Arbeitsnormensenkungen auch um die Freilassung politischer Gefangener und Anklagen gegen den Spitzelstaat, die miserable Versorgungslage, die hohen Preise, die Parteidiktatur... Die blau uniformierte Phalanx zog schließlich mit ihren Plakaten vom Bahnhofsvorplatz nach rechts in die Stadt hinein. Die Bahner forderten zum Mitgehen auf und die ersten Zivilisten schlossen sich an. Schnell wuchs der Demonstrationszug und als er sich am Lübbenauer Hafen, der Kahnanlegestelle, entlang wälzte, rechter Hand das Lokal „Zum Grünen Strand der Spree“, war er bereits auf viele Hundert angewachsen und füllte die relativ schmale Maxim-Gorki-Straße.
    Mit der Spitze des Zuges näherten sich auch die beiden Freunde einem Torbogen. „Dort rechts“, sagte ein Bahner, „direkt am Torbogen, da sitzt die Polizei. Von denen ist allerdings nichts zu sehen“, fügte er spöttisch hinzu. Nur in den Fensterecken konnte man undeutlich einige Gesichter erkennen. „Haben auch ein schlechtes Gewissen, die Burschen dort“, sagte ein anderer und einige drohten lachend mit den Fäusten. „Die haben einfach nur Schiß, diese Banditen dort“, stellte ein weiterer fest. „Die Pfeifen da oben könnten uns sowieso nicht aufhalten.“
    Auf dem Weg zum Bahnhof zurück standen rechts am Straßenrand ein russischer Jeep und vier Rotarmisten.
    „Ruhig bleiben. Nicht provozieren“, wurde von der Spitze des Protestzuges nach hinten durchgegeben. Sebastian und Hans-Peter zogen vor dem Plakat NIEDER MIT DER REGIERUNG an den Russen vorüber, die die Demonstranten winkend grüßten.
    „Die wissen noch von nichts“, sagte Sebastian und die Bahner um ihn stimmten zu.
    „Die können auch nicht deutsch lesen“, sagte einer und wies mit dem Daumen auf das Transparent hinter sich.
    „Bloß gut“, erklärte ein anderer, „aber es werden schon noch welche von den Freunden dort anrücken. Polizei und Stasi haben längst um Hilfe geschrieen.“
    Sebastian sah sich um und Hans-Peter ging gar einige Schritte rückwärts, um zu sehen wie der Protestzug an den Russen vorbeiging. Einige Demonstranten winkten zurück, ein paar Scherzworte fielen aus der vorbeiziehenden Menschenmenge. Viele lachten. Die ganz offensichtlich noch ahnungslosen Rotarmisten freuten sich. Niemand provozierte.
    Als der Protestzug wieder am Bahnhofsvorplatz eintraf, war er schon auf einige Tausend angewachsen, die sich weit in die Straßen hinein stauten.
    Der Bahner, der Sebastian nach dem Forstabzeichen gefragt hatte, löste sich aus der Menge, sprang am Bahnhofsgebäude die Treppenstufen hinauf, drehte sich zu den Versammelten und gab mit einer weiten Handbewegung zu verstehen, daß er reden wollte. Das laute Stimmengewirr ebbte merklich ab. Der Bahner sprach zwar so laut es ging, dennoch konnten Sebastian und Hans-Peter die Ansprache nur sehr bruchstückhaft verstehen, standen sie inzwischen doch weiter hinten in der Menge.
    Sie vernahmen aus Wortwechseln um sich her, daß Ausflügler aus der weiteren Umgebung und auch aus Berlin die Protestversammlung dort vor dem Bahnhof zusätzlich verstärkten. Schließlich hatten auch alle Kahnlenker den Betrieb im Lübbenauer Hafen eingestellt. Sie fuhren ja im Auftrage des Staates, für dessen Abschaffung sie gerade durch die Straßen gezogen waren.
    „Der zieht aber gewaltig vom Leder“, wandte Sebastian sich an Hans-Peter.
    Es ging da bei der Ansprache, soweit die beiden es überhaupt verstehen konnten, um die Abhaltung freier Wahlen, nicht bloß um Normensenkungen und die miserable Versorgungslage der Bevölkerung. Schließlich rief der Sprecher auf der Bahnhofstreppe sogar zum Sturz der Regierung auf, wie es auch schon auf den Plakaten gefordert worden war.
    Der hat Mut, überlegte Sebastian, öffentlich so zu sprechen, und er fragte sich, ob er selbst sich so etwas zutrauen würde bei den ganzen Spitzeln hier in der Menge. Wahrscheinlich nicht, sagte er sich, obwohl es bestimmt ganz wichtig wäre

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