Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman
die das im Rias gebracht?“ fragte er und deutete auf den Radioapparat, den seine Mutter in der großen Küche beständig am Laufen hielt.
„Ja natürlich“, sagte sie und stellte Sebastian das Mittagessen, Bruchnudeln mit Mehlsoße und einem Spiegelei, dazu grünen Salat aus dem Garten auf den Tisch.
Rias hören war zwar nicht unmittelbar strafbedroht, wenn man es nicht öffentlich tat. Jedoch war ein RIAS-Hörer ein Klassenfeind und so hatte man staatlicherseits versucht eine Karikatur, eine Spottfigur daraus zu machen, mit einem überdimensionalen Ohr wurde solch ein RIAS-Hörer karikiert. Was aber war nun öffentlich? Sebastian wußte von Leuten, die verhaftet worden waren, weil sie Rias bei geöffneten Fenstern gehört hatten. An schönen Sommertagen hielt auch seine Mutter das Küchenfenster zumeist offen, bei jedoch leise gestelltem Radioapparat.
Und dann hörte Sebastian es selbst in ständig laufenden Sondermeldungen: Tausende von Bauarbeitern waren vor das Haus der Ministerien in Berlin gezogen und hatten für den nächsten Tag den Generalstreik ausgerufen.
Der nächste Tag, überlegte Sebastian, morgen also, da ist Mittwoch, Mittwoch der 17. Juni. „Heute geht’s nicht mehr“, sagte er zu seiner Mutter, „aber morgen. Ich muß morgen nach Berlin. Krank – also ich bin krank. Magenschmerzen, ich mußte mich übergeben. Ich nehme morgen den Zug am späten Vormittag.“
„Du bist verrückt“, sagte seine Mutter. „Generalstreik und die demonstrieren auf den Straßen. Was willst denn du da? Du streikst doch schließlich nicht.“
Sebastian lachte laut. „Soll ich denen im Kreisforstamt vielleicht sagen, ich habe am 17. gestreikt und bin nach Berlin gefahren? Ne, ich muß das unbedingt sehen. Ich hätte nie wirklich geglaubt, daß es mal so weit kommen könnte, Generalstreik!“ Er schüttelte den Kopf. „Bei Richard in ‘Drei Linden’“, sagte er, „also, da war einer hier aus Großräschen, ein Zimmermann glaube ich, der in Berlin an der Stalinallee arbeitet, der hat erzählt, was dort für katastrophale Verhältnisse herrschen, aber Generalstreik... wer hätte das gedacht? Das ist jedenfalls toll!“
„Toll wäre es, wenn du dort erschossen würdest“, sagte seine Mutter besorgt.
„Was heißt erschossen! Es könnte sein, daß in den nächsten Tagen die DDR stürzt.“
„Illusionen“, entgegnete seine Mutter. „Du läßt das Essen kalt werden“, dazu wies sie auf seinen Teller.
„Was sagen denn unsere Sender dazu? Hast du schon mal reingehört?“
„Ja“, sagte sie, „nichts, nur Schweigen im Walde.“ Dazu schüttelte sie den Kopf und setzte sich auf einen Stuhl am Küchentisch. „Musik und die üblichen Nachrichten. Mußt du denn wirklich dahin?“
„Menschenskind, wenn das wahr ist – und das ist es, wenn’s im Rias kommt. Ein historisches Ereignis.“
„Du glaubst doch nicht im Ernst, daß die DDR zusammenbricht, jedenfalls nicht, wenn die Russen dahinter stehen. Die werden das nie zulassen“, erklärte seine Mutter.
„Kann schon sein, aber ein geschichtlicher Einschnitt bleibt es allemal. Das muß ich erleben, mit eigenen Augen sehen.“ Sebastian schaufelte eilig die Nudeln in sich hinein. Wir müssen zu Hoffmann, überlegte er dabei, müssen wissen, was die dazu sagen, was die nun vom Westen aus vorhaben. Damit hat doch niemand gerechnet. Kurz darauf hörte er draußen vor dem Haus Hans-Peter pfeifen, das übliche Zeichen. Sebastian schob den leer gegessenen Teller beiseite. „Moses wird’s auch schon wissen“, sagte er zu seiner Mutter und stürzte davon, in großen Sprüngen die Treppenstufen hinab.
„Was sagst’n dazu“, fragte breit grinsend sein Freund.
„Ich kann’s kaum glauben. Wir müssen hin, unbedingt und das schnellstens.“
„Morgen?“ fragte Hans-Peter.
„Ja, mit dem Zug um 11.05 Uhr. Wir könnten dann schon nachmittags in Berlin sein. Ist leider ein Bummelzug, aber mit dem nächsten Eilzug wären wir noch später dran.“
„Warum erst um elf?“ fragte Hans-Peter „warum nicht gleich früh?“
„Na, ich mach’ doch krank. Könnte sein, daß die jemanden vorbeischicken und das gleich früh, wenn ich nicht auftauche.“
„Die kommen hier her?“ erkundigte sich Hans-Peter ungläubig.
Sebastian zuckte mit den Schultern, „bei mir bisher noch nie“, sagte er, „aber bei anderen schon und zwar gleich früh.“
„Deine Mutter könnte ja sagen du bist krank und schläfst noch. Die werden dich doch nicht schlafend in
Weitere Kostenlose Bücher