Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
Vom Netzwerk:
Fragen mit einem spöttischen Lächeln, mit halb geöffnetem Mund und einem hasserfüllten Blick. Aber wir hatten den ganzen Tag nichts gegessen, und wenn ich ihn nicht unter Druck setzte, käme wahrscheinlich noch ein Tag dazu. Ich wollte einfach nicht, dass er wieder ohne mich wegging.
    Also fragte ich noch einmal ganz sanft nach: »Carlos, hast du mich gehört? Kann ich mitkommen?« Mein Puls raste.
    Er kam ganz langsam auf mich zu, und dann – blitzschnell – holte er mit einem Arm aus. Wumm! Seine Faust kam an meinem Kopf vorbeigeflogen und zerbrach beim Aufschlagen die Holztäfelung der Wand. Ich schrie auf. Wieder holte er mit seiner riesigen Faust aus, als würde er mich ins Gesicht schlagen. Ich wich zurück und hob schützend meinen Arm. Er hielt inne, musterte mich mit erhobenem Arm von oben bis unten und lachte. »Bescheuerte Kuh«, murmelte er vor sich hin, bevor er ins Badezimmer ging. Ich zitterte am ganzen Körper, kauerte mich ans Kopfende des Bettes und wagte es nicht, ein weiteres Wort von mir zu geben. Noch nie zuvor war er mir gegenüber gewalttätig geworden.
    Aber vielleicht stimmte das so auch gar nicht. Carlos hatte eine bestimmte Art, die Kontrolle zu übernehmen, sodass man einfach wusste, ab wann man ihn nicht weiter zu bedrängen hatte. Jetzt brabbelte er irgendwas im Bad vor sich hin und warf Sachen auf den Boden. Ich traute weder, mich zu bewegen, noch etwas zu sagen. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, als ich Carlos dabei zusah, wie er sich vor dem Wandspiegel die Haare gelte, seinen Ziegenbart mit einem Wegwerfrasierer sorgfältig zurechtstutzte, seine Goldringe anlegte und schließlich seine Waffe in den Gürtel steckte und seine Drogen in den Reißverschlusstaschen seiner Armeehose
verstaute. Schweigend machte er sich auf den Weg hinaus in die Kälte.
    »Polizei verhaftet Liebhaber als Messerstecher« lautete am 13. Januar die Schlagzeile der New York Daily News . Der Artikel hielt sich mehr an Fakten als an Gefühle und berichtete von einer Frau, »die mehrere Stichwunden am Körper davongetragen hat; danach wurde ihre Kehle durchgeschnitten. Man fand sie sterbend auf dem Boden ihres Motelzimmers«. Es war ein Gewaltverbrechen an einer Frau, verübt von ihrem Freund, in einer Stadt, wo derartige Delikte an der Tagesordnung waren. Tatsächlich waren Messerstechereien in diesem »Stundenhotel«, wie es genannt wurde, nichts Neues, genauso wenig wie Drogenhandel, Polizeirazzien und Gewalt gegen Frauen.
    Aber ich war nicht auf die Nachrichten angewiesen, um von der Messerstecherei zu erfahren: Ich musste nur meinen Vorhang zur Seite schieben. Damals liefen gerade die Nachrichten im Fernsehen, als Carlos mal wieder unterwegs war. Zuerst drang es gar nicht zu mir durch: Eine Reporterin gab vor irgendeinem Motel die Geschichte über einen besonders gruseligen Mord zum Besten, an einer Frau, die irgendwo am New England Thruway abgestiegen war. Das Zimmermädchen hatte die Leiche entdeckt, die genau in diesem Augenblick mit weit aufgerissenen Augen hinter der Reporterin geräuschlos auf einer Pritsche in einen Krankenwagen gerollt wurde. Es hätte auch eine Szene aus Daddys Lieblingsserie Die Aufrechten – Aus den Akten der Straße sein können, aber es war ein echter Mord – genau unter meinem Fenster. Rosa Morilla, neununddreißig Jahre alt, Mutter von fünf Kindern, war auf dem Boden ihres Zimmers im Holiday Motel verblutet, nur drei Türen entfernt von mir. Ich sprang auf, um aus dem Fenster zu sehen, linste durch meinen Vorhang und sah die Reporterin. Es war, als hätte ich zwei unterschiedliche Fernsehübertragungen mit zwei unterschiedlichen Kameraeinstellungen zur Verfügung. Ich blickte zwischen Fernseher und Fensteraussicht hin und her,
mit dem Ergebnis, dasselbe Bild zu sehen: Mrs Morilla in einem Leichensack, das Zuschlagen der Krankenwagentüren, der grelle Schweinwerfer, der das übertriebene Make-up der Reporterin ausleuchtete.
    Ich schaltete alles aus, Licht und Fernseher, und kroch unter meine Decken. In der Dunkelheit lauschte ich auf das Krächzen des Polizeifunks, auf die vielen Schritte im knirschenden Schnee, auf die rasend schnell Spanisch sprechenden Zimmermädchen. »Nein«, sagte ich in den leeren Raum hinein. »Verdammt noch mal.«
    Nur ein paar Stunden später hätte man nicht mehr geglaubt, dass der Mord tatsächlich passiert war. Die Journalistin war längst weg, die Polizei hatte zusammengepackt und war abgezogen, und das Motel machte weiter wie bisher,

Weitere Kostenlose Bücher