Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
Vom Netzwerk:
ganz so, als hätte Rosa Morilla nie existiert. Als wäre sie nicht Mutter von fünf Kindern, als wäre sie nicht Tochter oder Schwester von irgendjemandem, als wäre sie völlig bedeutungslos.
    Wie sich zeigte, konnten Leute einfach so verschwinden. Ich musste gegen meinen Willen ständig an diese Frau denken, die nur ein paar Meter von meinem Zimmer entfernt ermordet worden war. Wie war sie dort gelandet, in diesem schäbigen Motelzimmer mit einem gewalttätigen Freund, der behauptete, sie zu lieben? Und ich, was unterschied mich denn von ihr?
    Vielleicht hatte ich Carlos am Anfang geliebt, vielleicht wollte ich die Zukunft, die er sich für uns beide ausgemalt hatte. Ich wollte, dass er sein Erbe bekam und eine eigene Wohnung. Ich wollte ihn so lieben, wie er noch nie zuvor geliebt worden war. Aber diese Zukunft hatte sich schon vor langer Zeit verdunkelt. Und jetzt blieb ich bei ihm, weil ich vor ihm Angst hatte und das Gefühl, ohne ihn aufgeschmissen zu sein. Ich dachte, ich sei auf ihn angewiesen.
    Immer wieder musste ich den Gedanken zu Ende denken: Was, wenn es um Carlos und mich gegangen wäre und nicht um Rosa und ihren Freund? Was, wenn die Reporterin meinen Namen genannt
hätte? Die sechzehnjährige Elizabeth Murray starb mutmaßlich durch die Mörderhand ihres Freundes, eines achtzehn Jahre alten Drogenhändlers … Ich stellte mir vor, was das für Daddy, Lisa, Sam und Bobby bedeutete – für all die Leute, die ich liebte –, wenn mein Leben auf diese Weise ausgelöscht werden würde.
    Das Zimmermädchen hatte Mitleid mit mir und gab mir ein paar Münzen. Ich benutzte sie für einen Anruf bei Jamie. »Ich brauche deine Hilfe. Kannst du mit deiner Mom reden und sie fragen, ob ich bei euch unterkommen kann? Ich muss hier weg, und zwar sofort.«
    Jamies Wohnung war ein Anlaufpunkt von vielen, alles Wohnungen meiner Freunde, Zufluchtsorte, an denen ich darüber nachdachte, was als Nächstes anstand, jetzt, wo ich allein auf mich gestellt war. Jamie hatte einen heftigen Streit mit ihrer Mutter, und ich bekam eine Woche Bleiberecht gewährt. Ich werde Jamies Güte niemals vergessen – wie sie keine Fragen stellte, sondern einfach half, wo immer sie konnte, als wäre sie meine Familie. Sie lieh sich von ihrer Mutter Geld fürs Taxi, wusch meine Kleidung, während ich eine heiße Dusche nahm, sie schmierte weiche Thunfischsandwiches und kochte dampfende Hühnersuppe. Auf ihrem Futon schliefen wir nachts Seite an Seite ein, sauber und im Warmen. Carlos war so weit weg von mir, und ich fühlte mich sicher. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte ich länger bleiben können. Aber keiner meiner Freunde hatte eine eigene Wohnung, deshalb ging es immer darum, bei wem ich welche Nacht verbringen könnte. Und es war immer alles ungewiss und in der Schwebe.
    Während der ersten paar Wochen zog ich ziellos von einem Zuhause zum nächsten. Sam rief mehrmals bei Bobby an, aber ich verpasste sie jedes Mal. Sie war in Sicherheit, in einem Wohnheim auf der 241st Street. Als ich einmal die Nummer wählte, die sie hinterlassen hatte, ging ein Mädchen namens Lilah ans Telefon.
    »Ne, Sam ist nicht da, sie ist unterwegs. Soll ich ihr was ausrichten oder so?«

    »Sag ihr, Liz hat angerufen und dass ich heute Abend bei Bobby bin, falls sie mich zurückrufen will. Sam ist die Puerto Ricanerin mit den kurzen blauen Haaren. Bitte sorg dafür, dass sie meine Nachricht auch wirklich bekommt.«
    »Ich weiß , wer Sam ist«, platzte es aus ihr heraus, »ich bin ihre beste Freundin.«
    Sie legte auf. Sam war also weitergezogen … aus heiterem Himmel war auch sie plötzlich weg. Ich war ab jetzt tatsächlich ganz auf mich gestellt, und ich musste allein klarkommen.
    Einmal war ich gezwungen, Fiefs Wohnung mitten in der Nacht zu verlassen, als seine Eltern einen heftigen Streit hatten. Bobby machte der Überraschungsbesuch zu später Stunde nichts aus; er schien sich tatsächlich zu freuen, mich zu sehen. Als ich bei ihm aufkreuzte, war er schon bettgerecht gekleidet: in abgeschnittenen Jeansshorts und einem verwaschenen T-Shirt mit dem McDonald’s-Logo, nur dass zwischen den goldenen Bögen MARIHUANA stand. Als ich sah, wie seine Augen in dem Moment zu leuchten begannen, als er die Tür aufmachte, realisierte auch ich erst, wie sehr ich ihn vermisst hatte – ihn und Bedford Park, den Pulk und unsere Treffen. Ich hatte ein paar Leute um Geld angebettelt und brachte deshalb etwas vom Chinesen mit, darauf bedacht, nicht mit leeren

Weitere Kostenlose Bücher