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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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in Einzelhaft im Gefängnis verbringen musste, mit nur einem einzigen Buch zur Ablenkung. Er sagte, er hätte Wahnvorstellungen von den Charakteren aus dem Buch bekommen; sie hätten mit ihm geredet und wären seine einzigen Gefährten geworden. Ich ging in dem engen Motelzimmer auf und ab, verzweifelt, untröstlich wegen Ma, langsam auf einen Zusammenbruch zusteuernd.
    Meine Gedanken konzentrierten sich auf die Leute in meinem eigenen Leben, darauf, wie sie meine Möglichkeiten bestimmten. Wohin würde ich gehen, wenn ich von hier verschwand? Zu Bobby? Das würde nicht lange gut gehen. Zu Jamie? Ihre Mutter war Sozialarbeiterin bei der Jugendfürsorge. Sie würde nur darauf warten, mir zu »helfen«, wieder in ein Erziehungsheim zu kommen, also konnte ich da auch nicht lange bleiben. Nach meinen Erfahrungen in St. Anne’s – die fiesen Girls, das gleichgültige Personal und das gefängnisähnliche Umfeld – würde ich nie wieder an einen solchen Ort zurückkehren. Zurück in Bricks Wohnung? Mr Doumbia würde wieder dort auftauchen, also kam das aufs Gleiche wie das Heim heraus. Keine Chance.
    Ich war aufgeschmissen. Ich versuchte, mich mit Schlaf und dem Fernseher zu betäuben, aber Erinnerungen an Ma drängten sich ständig dazwischen: der verdammte Kiefernsarg, in dem sie begraben worden war, die groben Nägel, die ihn zusammenhielten. Hatte sie immer noch ihr Krankenhaushemd an? Ich habe ihr gesagt, ich käme »bald« noch mal vorbei. Ich dachte wirklich, es gäbe noch ein Bald für mich … Aber wo ich doch noch ihre NA-Münze habe, wo doch bei Brick und Lisa noch ihre Anziehsachen im Schrank hängen, da kann sie doch gar nicht wirklich tot sein, oder?
    Als Carlos’ Wahnsinn aus dem Ruder lief, hatte ich das Gefühl – wie in einer starken Strömung, die einen flussabwärts mitreißt –, als würde es mich mit ihm ziehen.
    In den nächsten zwei Wochen, wann immer Carlos von seinen langen mysteriösen »Ausflügen« zurückkehrte, lehrte er seine Taschen
auf dem Moteltisch aus: seine schwarz-goldenen Ketten, die ihn als Bandenmitglied der Latino-Community auszeichneten, Tuben mit antibiotischer Creme für seine wachsende Zahl an Tätowierungen, eine Waffe, Gefrierbeutel mit Pillen, rechteckige Blöcke aus Gras und, kurioserweise, zwei Getränkedosen. Unter Decken vergraben, erspähte ich in der schummrigen Beleuchtung, wie er den oberen Teil einer gefakten Coladose abnahm und einen Plastikbeutel mit weißem Pulver, bei dem es sich eindeutig um Kokain handelte, hervorholte. Vor dem Hintergrund einer mit Spiegeln und einer kitschigen Tapete bedeckten Wand drehte sich Carlos zu mir um und hielt die präparierte Dose und die Tüte hoch. Amüsiert zog er die Augenbrauen hoch, fand es offensichtlich urkomisch, dass er Kokain in einer Colabüchse versteckt hatte.
    Das einzig Angenehme war, dass Carlos aufhörte, mir körperlich nahe zu kommen. Wenn er im Morgengrauen in jenen kalten Januartagen zurückkehrte, streifte er sich nur noch seine schneebedeckten Stiefel von den Füßen, legte sich auf den Boden und zog sich eine Decke über den Kopf. Ich war erleichtert und gleichzeitig entnervt, denn wenn wir nicht mehr miteinander sprachen und schliefen, warum waren wir dann überhaupt noch zusammen? Und trotzdem spulte mein Gedächtnis hartnäckig Erinnerungen an durchdringende braune Augen ab, die mich liebevoll ansehen, und an seinen Herzschlag, den ich beim Einschlafen auf seiner Brust spüre. Carlos war einmal eine Quelle an Trost und Liebe gewesen. Er hatte sich um Ma gekümmert, genau wie er seinen Erzählungen nach für seinen Vater gesorgt hatte, als dessen Aids-Erkrankung richtig ausbrach. Nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht hatten, war es zwar schwer, böse auf ihn zu sein, aber nicht, Angst vor ihm zu haben.
    Nach zu vielen unbehaglichen Nächten, in denen er verschwunden war und die mit nichts als Schweigen gefüllt waren, riskierte ich es, ein paar Dinge anzusprechen. Ich schlug meinen schüchternsten Tonfall an und fragte sanft: »Wo gehst du denn hin? Kann ich vielleicht mitkommen? … Können wir Sam abholen?«

    Ich hatte keine Telefonnummer von Oscar, und überall, wo ich sonst anrief, hatte keiner von unseren Freunden irgendetwas von Sam gehört. Ich machte mir große Sorgen. Außerdem hatte ich die Nase voll davon, mit fast verschimmelten Essensresten auskommen zu müssen und im Ungewissen über seine Rückkehr am Fenster zu sitzen. Es musste sich etwas ändern. Carlos beantwortete meine

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