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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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anzuziehen, auf dem Weg in die Bar. An der Art, wie ihr Gesicht zusammenfiel, erkannte ich, dass ihr Drogenrausch abgeebbt war. Sie brauchte jetzt Alkohol, der würde sie beruhigen. Ich konnte nicht mehr zu ihr durchdringen.
    »Ich weiß, Liebling, aber es wächst ja wieder nach. Ich musste ihn nur gerade schneiden. Diese verdammte Schere taugt nicht zum Haareschneiden. Ich musste weitermachen, um es irgendwie zu richten.«
    Lisa hatte gesagt, dass Kinder immer einen Grund zum Hänseln fanden. Bei der Vorstellung, was die Kinder in der Schule bei meinem Anblick denken würden, begann ich leise vor mich hinzuweinen. Ma nahm meine Hand und führte mich den Flur entlang ins Badezimmer, das gleich neben der Eingangstür lag. Sie stand hinter mir, und wir sahen beide gleichzeitig in den Spiegel. Sie hatte ihre Jacke schon angezogen. Plötzlich lag ihr Kinn auf meiner Schulter, und ihre Finger streichelten meine Stirn.
    »Es sind doch nur Haare, Schätzchen, die wachsen wieder. Als ich klein war, hat meine Schwester Lori meiner Lieblingspuppe
das Haar abgeschnitten. Ich war so wütend. Sie sagte, es würde wieder nachwachsen, und ich habe ihr geglaubt . Kannst du dir das vorstellen?«
    Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und studierte unser gemeinsames Bild im Spiegel. Ma konnte ihren Blick nicht ruhig halten, und ihre Hände auf meinen Schultern waren übersät mit Blutspritzern. Winzige Haarschnipsel klebten an ihren Fingern.
    »Deins wächst wenigstens nach, Lizzy. Alles ist in Ordnung. Die Schule wird sicher lustig, wirst schon sehen.«
    Dann sah ich noch ihrem Spiegelbild dabei zu, wie es einen einzigen Kuss auf meine Stirn drückte, und schon war sie zur Tür hinausgewischt. Ich hörte sie schnell die abgewetzten Marmorstufen im Treppenhaus hinuntertrampeln. Und weg war sie.

2
Mittendrin
    »Sie mögen kein Rot. Ich sag dir doch, wenn du Rot in deine Haare tust, verschwinden sie. Ich schwör’s, Lizzy, so bin ich meine auch losgeworden.«
    »Na klar … Lügnerin !«
    Wahrscheinlich nur, um ihre eigene Langeweile totzuschlagen, schikanierte Lisa mich in Abwesenheit unserer Eltern. Wenn Ma und Daddy den ganzen Tag verschwunden blieben oder unregelmäßig aus- und eingingen, beschäftigt damit, sich Drogen zu besorgen, und uns dadurch dann ganze Nächte uns selbst überließen, dachte Lisa sich neue schreckliche Sachen für mich aus.
    »Als Erstes muss ich dir Zöpfe flechten, Liz. Nicht irgendwelche Zöpfe – ganz starre, die in alle Richtungen vom Kopf abstehen.«
    »Aber warum? Ich weiß , dass du lügst. Warum ist es so wichtig, dass meine Haare geflochten sind?«
    Während ich immer noch fast alles glaubte, was Lisa mir erzählte, so war ich doch, bis ich in die erste Klasse kam, mehr als ein Mal von ihr reingelegt worden. Mein Instinkt schärfte sich langsam, und diese Behauptung war einfach zu haarsträubend, wie ich fand; bestimmt führte sie etwas im Schilde.
    »Na gut, Lizzy«, sagte sie und wandte sich von mir ab, »ich versuche ja nur, dir zu helfen. Wolltest du das nicht? Ich weiß, wie’s
geht, aber wenn du deine Läuse nicht loswerden willst, kann ich auch nichts daran ändern.«
    Aber ich wollte meine Läuse unbedingt loswerden. Seit Wochen krochen sie auf meinem Kopf herum. Auf der Jagd nach ihnen hatte ich mir mit meinen Fingernägeln brennende Furchen in die Kopfhaut geritzt, die bei jeder weiteren Berührung schmerzten. Nachts konnte ich spüren, wie sie herumhüpften, sich ihren Weg durch meine Haare bahnten und zubissen, bis ich alles tief aufkratzte, um dieses Gefühl verschwinden zu lassen. Ich erwachte häufig von Träumen über wütendes Ungeziefer, das meinen Skalp auffraß und Eier in meine Haut legte.
    Anfangs war es nicht so schlimm, und ich hatte sie kaum bemerkt. Erst musste die Tochter des Hausmeisters, Debbie, bei uns anklopfen und Ma darauf hinweisen, nach Läusen in unseren Haaren zu suchen, bis ich das anhaltende Jucken auf meiner Kopfhaut mit etwas Konkretem in Verbindung brachte.
    »Die ganzen Mistkerle, die mein Vater da unten um sich hat«, sagte Debbie, »ich schwöre dir, Jeanie, die Hälfte kommt direkt aus der Gosse. Untersuch lieber deine Kinder, sie haben genug Zeit mit dir unten im Keller verbracht, um sie aufzuschnappen. Ich weiß, wovon ich rede. Habe gerade den ganzen verdammten Nachmittag damit verbracht, den Scheiß von meinem eigenen Kopf runterzukratzen.«
    Eine Erinnerung an die Wohnung des Hausmeisters vom letzten Wochenende schoss mir durch den Kopf.

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