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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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irgendwo weiter oben ein Haus kaufen, in der Nähe von Peekskill, wo Malik in einem wunderschönen Garten spielen könnte. Manchmal, lange nachdem Talesha eingeschlafen war, in der allumfassenden Stille des tiefschwarzen Zimmers, weinte dann ich. Ich dachte an meine Familie, an Daddy allein in der großen Wohnung, an Lisa, die sich immer weiter von mir entfernte, und an das Aids-Virus, das sich Minute für Minute seinen Weg durch Mas Körper bahnte, und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte.
    Ich wurde aus St. Anne’s entlassen, als der Frühling kam und die Kirschbäume auf den Straßen der Lower East Side blühten. Ich weiß nicht, ob Tantchen, Dr. Morales oder Mr Doumbia die endgültige Entscheidung traf, mein Sorgerecht und damit mich in Bricks Verantwortung zu übergeben, aber ich war überglücklich, von dort wegzukommen. Außer der Tatsache, dass ich Talesha zurücklassen musste, gab es für mich keinen Grund für Traurigkeit über meine Entlassung.
    »Viel Glück, ich werde dich vermissen«, sagte sie und umarmte mich so fest, wie es schon lange niemand mehr getan hatte. Ich dankte ihr für alles, wünschte ihr auch Glück, schnappte mir meinen Müllsack mit meinen Klamotten und ging nach unten, wo Mr Doumbia auf mich wartete.
    Es dämmerte mir erst, als ich vor St. Anne’s draußen auf die Straße trat, umgeben vom Lärm des geschäftigen Treibens in Manhattan, dass ich überhaupt keine Vorstellung davon hatte, wie mein Leben jetzt aussehen würde. Auch wenn ich »nach Hause ging«, zu Ma und Lisa, kehrte ich zu nichts zurück, was mir bekannt vorkommen würde. Bei jedem unserer wöchentlichen Telefonate hatte Ma mir versichert, dass das Zusammenleben mit
Brick das Beste für mich sei – für uns. Aber jetzt war Daddy in ihrem »uns« nicht mehr enthalten.
    Ich rutschte im Taxi auf den Rücksitz neben Mr Doumbia. Während ich ihm dabei zuhörte, wie er dem Fahrer meine neue Adresse auf dem Bedford Park Boulevard nannte, bemerkte ich, wie sich ein altbekanntes Gefühl in meiner Brust ausbreitete. Ich befürchtete – beziehungsweise war mir ganz sicher –, dass ich alles andere als »nach Hause ging«, sondern nur an einen neuen Ort verfrachtet wurde, an dem ich nicht sein wollte.

5
Aufgeschmissen
    Bricks Wohnung mit nur einem Schlafzimmer war übersät mit endlosen Rabatt- und Wertmarken-Utensilien: Kassenbelege für nahezu alles, was man in einem Supermarkt kaufen konnte. Marlboro-, Newport- und Winston-T-Shirts lagen in schlampigen Haufen überall herum. Seine Schüsseln waren ein farbenfrohes Sammlersortiment aus Plastik in Form umgedrehter Baseballkappen, erstanden durch die sorgfältig ausgeschnittenen Barcodes auf der Rückseite von Kelloggs-Apple-Jacks-Schachteln, die ungeöffnet im Schrank standen. Ganze, noch in Kartons verpackte Großbestellungen von Soßenpulver der Marken Pepsi und Franco-American waren sorgfältig geöffnet, ihrer Etiketten entledigt und wieder weggeräumt worden. Der exzessive Erwerb einer bestimmten Fertigbackmischung für Kuchen hatte Brick zu einem Gratisabo der Zeitschriften Sports Illustrated und Better Homes and Gardens verholfen. Überall in der Wohnung verteilt und auf den Armlehnen der beiden schmuddeligen Sofas platziert, befanden sich unzählige Aschenbecher, die bis an den Rand mit ausgedrückten Zigarettenstummeln und abgebrannten Streichhölzern bestückt waren. Ich wusste, Daddys Kommentar würde lauten, dass es kein einziges Buch hier gäbe.
    An dem Morgen, als ich mit Mr Doumbia eintraf, verteilte Ma
gerade eine großzügig bemessene Portion Mayonnaise auf Bricks Roastbeef-Sandwich, während er einfach nur dasaß und darauf wartete, gefüttert zu werden. Der Rauch ihrer Zigaretten lag schwer in der Luft, vermischt mit den Klängen von »Only You« aus einem Schrottradio auf dem Tisch. Lisa hatte uns die Tür aufgemacht und mich mit einer laschen Umarmung begrüßt. Sie hatte ihre Lippen dunkel geschminkt und trug goldene Kreolen im Ohr, die größer wirkten als ihr Gesicht.
    »Schätzchen!« Ma strahlte, als sie mich sah. »Da bist du ja!« Sie nahm mich fest in ihre Arme, das fettige Messer immer noch in der Hand. Ich drückte sie an mich und spürte sofort ihren Gewichtsverlust. Ihr schmächtiger Körper fühlte sich in meinen Armen wie der eines Kindes an. Ich war größer als sie, schwerer. Der Unterschied erstaunte mich, ich kam mir irgendwie älter vor als sie. »Ich habe dich vermisst, Ma«, flüsterte ich ihr sanft ins Ohr, während ich über

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