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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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wo hätte sie denn hingehen können? Was sonst hätte Ma für sich, für Lisa und für mich denn tun können? Sie hatte das Wort aufgeschmissen verwendet. Vielleicht sollte ich sie nicht länger wegen Brick nerven, dachte ich. Im Moment wenigstens.
    Wir saßen schweigend da, und ich ließ meinen Gedanken freien
Lauf. Eines Tages, dachte ich, werde ich an diesem Schulhof vorbeigehen, und sie wird nicht mehr da sein. Dieser Gedanke erwischte mich kalt. Ich beschloss, ein inneres Foto von diesem Moment zu schießen: wir hier allein, beim Essen. Mas Körper, voll Leben und Bewegung. Wie liebten uns; nichts konnte daran etwas ändern. »Ich werde immer Teil deines Lebens sein … Egal, wie groß du bist, du bleibst immer und ewig meine Kleine«, hatte sie mir in der Nacht versichert, als sie mir sagte, sie habe Aids.
    Ich beugte mich vor und pflückte zwei flauschige Pusteblumen aus der wilden Wiese zu unseren Füßen und überreichte ihr eine davon. Sie hielt sie auf dieselbe Art und Weise wie ihre Zigarette und studierte sie neugierig. »Danke, Lizzy«, sagte sie schließlich.
    »Wünsch dir was, Ma«, sagte ich lachend zu ihr, »aber verrate es mir nicht, sonst geht dein Wunsch nicht in Erfüllung.« Ich tat so, als würde ich ihre Verlegenheit nicht bemerken. Wir hielten uns an den Händen und pusteten die Samen in tausend Richtungen; manche fielen auf ihr dunkles Haar und blieben darin stecken. Ich überlegte kurz, mir mehr Möglichkeiten und gute Noten in der Schule zu wünschen. Aber dann wünschte ich mir stattdessen, dass es Ma wieder besser ginge.
    Ich habe niemals herausgefunden, was ihr Wunsch war.
    Acht Earth Eins bestand aus Schülern, die seit der sechsten Klasse zusammengeführt worden waren. Daher waren die fünfundzwanzig meist dreizehn Jahre alten Teenager in meiner Klasse in enge Cliquen unterteilt, verschiedene Grüppchen bester Freunde. An dem Nachmittag, als ich dazustieß, in der Hand die Notiz aus dem Büro und mit meiner umgehängten roten Schultasche, hielt unser Lehrer, Mr Strezou, gerade eine Mathematikstunde ab. Er war Mitte dreißig und trug ein dunkelblaues Button-down-Hemd zu abgewetzten Kakihosen und Slippern. Beim Überfliegen meiner Büronotiz legte er seine Stirn in ein Dutzend Falten.
    »Willkommen, willkommen … Elizabeth.«
    Ich nickte nur, ohne ein Wort zu sagen. Lehrer zu enttäuschen
war viel schlimmer, als sie niemals richtig kennenzulernen. Ich beschloss, noch bevor ich den Raum überhaupt betrat, mich erst gar nicht auf die Lehrer in der 80 einzulassen.
    »Du kannst dich hinsetzen, wo du willst.« Er warf die Notiz in den Papierkorb und widmete sich der nächsten mathematischen Fragestellung. »Wer kann Nummer vier lösen?«
    Außer einem waren alle Plätze in dem lauten Klassenzimmer besetzt; mit gesenktem Blick ließ ich mich auf den Stuhl fallen und hoffte, niemandem weiter aufzufallen.
    Irgendjemand hatte das Wort Phreak mit einem spitzen Gegenstand in das weiche Holz auf meinem neuen Platz geritzt, in wütenden kleinen Buchstaben. Als ich mit meinen Fingern über die Inschrift strich, fing jemand an, mich zu triezen. Gekicher, das ich noch aus der Grundschule kannte, stieg aus einer Reihe hinter mir auf. Mein Gesicht wurde schlagartig heiß, und in meinem Hals braute sich ein Kloß zusammen. Geht schon wieder los, dachte ich. Ich atmete einmal tief durch und ließ meinen Kopf in der Hoffnung hängen, das Ganze unbeschadet durchzustehen, bis die Klingel ertönen würde. Aus irgendeinem Grund, trotz des Lehrstücks im Erziehungsheim, täglich zu duschen, meine Kleidung und Unterwäsche zu wechseln, und obwohl ich Lisas abgelegte Sachen trug statt meiner eigenen zerschlissenen, schaffte ich es wieder, dieselbe negative Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ich ging im Geist eine Checkliste durch, woran es liegen könnte, als ich merkte, dass das Gelächter nicht gegen mich ging.
    Ich drehte mich zu einem hübschen Mädchen um, einer Latina, und einem weißen Jungen, die nebeneinandersaßen und sich aus nächster Nähe mit Papierkügelchen beschossen. Irgendetwas an ihrer Albernheit faszinierte mich: Sie sahen einfach so glücklich aus. Das Mädchen schoss das nächste Papierkügelchen ab und verfehlte sein Ziel, schickte es aber unbeabsichtigt quer durch den voll besetzten Raum, direkt in die Haare eines anderen Mädchens. Niemand schien es zu bemerken. Der Anblick löste bei den beiden einen Lachanfall aus, sodass ich nicht anders konnte, als mitzulachen.
Ich sah, dass mich

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