Als der Tag begann
nicht erraten«, sagte ich, »jedenfalls nicht richtig.« Zusätzlich war ich natürlich durch die Tatsache peinlich berührt, dass ich nie Radio hörte und ihm nicht einen einzigen Radiosender nennen konnte, selbst wenn ich gewollt hätte.
Er wirkte zufrieden. »Hab auch nicht geglaubt, dass du draufkommst. Z100 . Die Antwort lautet Z100 . Die meisten Leute denken ja, dass ich als Schwarzer Hip-Hop mag«, führte er aus. Sam blickte von ihrer Zeichnung auf und richtete die Spitze ihres Stifts genau auf sein Gesicht.
»Du bist ein komischer Vogel … mit Nachnamen heißt du Myers, stimmt’s?«
Der Junge lächelte, senkte mit einer theatralischen Begrüßungsgeste den Kopf und antwortete: »Ja. Und ich mag deine Zeichnungen, Sam.«
Es erstaunte mich nicht, dass er ihren Namen wusste, obwohl sie sich bei seinem nicht ganz sicher war. Sam musste ja andauernd die Aufmerksamkeit der Jungs auf sich ziehen, dachte ich.
Bobby, der weiße Junge, der mit Sam am Vortag im Unterricht geflirtet hatte, setzte sich nun auch noch zu uns an den Tisch.
»Was geht hier ab, Leute?« Er lächelte mich an und wandte sich dann an Sam, die ihm die Zunge rausstreckte. »Hey!«, rief er laut. Sie hatte einen Lachanfall, in den er sofort einfiel und ich dann auch.
Bobbys Frisur bestand aus einer gewellten braunen Haartolle, die über seine haselnussbraunen Augen fiel. Er trug dieses ewige Grinsen im Gesicht, eine Art verschmitztes Lächeln, als würde er ständig gleich wegen irgendwas losprusten. Egal, wann ich ihn ansah, dieses kleine Lächeln sorgte dafür, dass ich auch sofort wegen irgendwas loskichern könnte. Mit ihm und Sam zusammenzusitzen, machte mich auf der Stelle glücklich.
Bobby war noch in Begleitung eines anderen Freundes, ein hoch aufgeschossener Typ in Baggy-Jeans, der sich selbst mit dem Namen Fief vorstellte. »Sie nennen ihn so wegen der Zeichentrickmaus in diesem Film«, klärte Sam mich auf. »Wegen der Ohren.« Fief war Ire, mit rötlichem Teint und etwas zu großen Ohren.
»Was läuft, Leute?«, sagte er und lümmelte sich an unseren Tisch.
Während der gesamten Mittagspause saßen wir zusammen und redeten, abseits von den Hunderten von Kids um uns herum. Ich gehörte dazu, war mittendrin, ich brachte die Leute am Tisch zum Lachen, schlug vor, was wir in der Zeit außerhalb der Schule machen könnten. Als die Klingel ertönte, gingen wir alle zusammen wieder nach oben, teilten uns in den Fluren auf, winkten uns noch zu, bevor wir durch die Tür unserer jeweiligen Klassenzimmer gingen und keinen Blickkontakt mehr hatten. Zum ersten Mal überhaupt hatte ich keinen Zweifel daran, dass ich morgen wieder in die Schule gehen würde.
Bricks Arbeitsplan in der Galerie bestimmte den Tagesablauf in seiner Wohnung, und jeder Tag war eine exakte Kopie des vorherigen. Jeden Morgen erwachte ich um 7.15 Uhr zu den Klängen von »Happy, Happy Birthday« auf dem Oldie-Sender zum täglichen
Geburtstagsgewinnspiel für Kinokarten. Während im Radio die Hörernamen verkündet wurden, schwebte eine dicke Zigarettenrauchwolke aus Bricks Marlboros über Lisas und meinen Kopf hinweg ins Wohnzimmer, wo unsere Stockbetten in eine Ecke gequetscht standen. Ich konnte hören, wie er Ma mit seinen Rufen aufweckte.
»Jean, Jean«, nörgelte er herum, »es ist Morgen, Zeit loszulegen. « Sie machte den Kaffee und brachte uns auf die Beine, während er duschte. Mehr an morgendlicher Routine hatte ich noch nie erlebt. Und sicherlich war es geradezu einmalig für Ma, die immer Probleme damit gehabt hatte, aufzustehen, bis Brick ihr mit feuchter Aussprache ins Gesicht schrie und sie mit einem heftigen Ruck am Arm vom Bett zog, damit sie ihm zuhörte. Ich wusste, dass der Grund für ihre Erschöpfung nicht länger die Drogen waren (endlich nahm sie keine mehr), sondern die fortschreitende Krankheit. Ich hatte ihre Gespräche belauscht und wusste daher, dass Brick über ihre Krankheit Kenntnis hatte. Aber in der Art, wie er mit ihr umging, legte er keinerlei Achtsamkeit oder Einfühlungsvermögen an den Tag. Ihm dabei zuzusehen, wie er in seinen knitterigen, zu engen Boxershorts über ihrem zerbrechlichen, ruhenden Körper stand, weckte erneut in mir diese wachsende Wut auf ihn, die ich schon beim ersten Treffen verspürt hatte. Wut, die jedes Mal in mir hochgekocht war, wenn Brick Ma vom Telefon weggeholt hatte, wenn er so unsere zaghafte Unterhaltung gestört hatte, damals, als sie weggegangen war. Niemand hatte Ma jemals belästigt, wenn
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