Als der Tag begann
anderen Kids sorgsam meidend. Ein Plastiktablett stand neben mir, und ich stocherte in meinem Essen herum, als aus dem Nichts heraus – platsch — ein Finger in meinem Apfelmus landete. Es war der von Sam.
»Das willst du nicht in echt essen!«, sagte sie. »Das ist das reinste Gift, ich glaube, sie versuchen, uns um die Ecke zu bringen.« Ich lachte und blickte, grinsend von einem bis zum anderen Ohr, auf. Ich liebte Sams unverschämte Art; sie machte aus einem ganz normalen Tag urplötzlich etwas Spannendes. Sie schnipste das Mus von ihrer Fingerspitze. Mit den Worten »Rutsch mal rüber« ließ sie ihren Skizzenblock auf den Tisch fallen. Sam war gerade dabei, eine schmollmundige Fee mit üppigem Körper und einem Satz komplizierter Schmetterlingsflügel zu zeichnen. Sie hatte etwas an, das wie ein Button-down-Hemd ihres Vaters aussah. Vorn aufgeknöpft und über ihren fraulichen Körper drapiert, sah sie darin aus wie eins dieser Mädchen in Filmen, die in zu großen Männersachen absolut sexy wirken. Die Ärmel waren bis zum Ellbogen hochgekrempelt, wodurch auf ihren Armen farbenfrohe, zarte Zeichnungen von Flammen in roter und gelber Tinte enthüllt wurden.
»Zeig mal, das sieht ja cool aus.« Ich verschob meine Tasche, um Platz für ihr Tablett mit dem Mittagessen zu machen, und betrachtete eingehend ihre Skizze.
»Sie ist eine Schlampe und heißt Penelope«, antwortete Sam, ohne aufzublicken. »Dieses Mädchen würde es mit allen machen,
sogar mit Mr Tanner, und zwar bevor ein Schaf zweimal mit dem Schwanz wedelt.«
Ich lachte sofort los, fast ein bisschen zu laut. Mr Tanner, ein älterer Mann aus der Schulleitung mit grauen Haaren und schuppiger Haut, hatte wie aufs Stichwort gerade die Mensa betreten. Einen Moment früher hätte ihre Bemerkung ganz anders gewirkt. Sie ist wirklich schlagfertig, dachte ich. Wir beobachteten ihn, wie er stehen blieb und mit den Händen einen Trichter formte. Hunderte von Kindern, verteilt über die ganze Mensa, verstummten gleichzeitig. Er redete, und zu meinem Erstaunen ergriff die gesamte Mensa mit ihm das Wort: »Der Schulhof ist jetzt ge-öff-net.«
Sam verdrehte die Augen und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Zeichnung; sie war gerade dabei, die Flügel der Fee smaragdgrün anzumalen. Ihr Auftreten, so überlegte ich, war entweder temperamentvoll oder rätselhaft.
»Wie lange zeichnest du schon?«, fragte ich, als die Kinder an uns vorbei auf den Schulhof gingen, einen Apfel in der Hand oder den letzten Schluck aus ihrer Milchtüte saugend. »Ich meine, also, das sieht echt klasse aus.«
»Hm, geht so. Eigentlich will ich ja Schriftstellerin werden«, sagte sie. »Wenn ich ein Buch geschrieben habe, bis ich dreißig bin, kann ich in Frieden sterben. Genau genommen werde ich mich dann umbringen.«
Fast alles, was sie von sich gab, ging in diese dramatische Richtung. Über die Jahre unserer wachsenden Freundschaft würde ich sie dabei beobachten, wie sie ihre Umwelt mit Schimpfwörtern, lauten Rülpsern und unakzeptablem sozialen Verhalten beleidigte. Damals kostete ich ihre Rebellion aus; ich fühlte mich dadurch akzeptiert und irgendwie auch verstanden. Irgendetwas an ihrem unkonventionellen Benehmen passte perfekt zu meinem Gefühl, anders und von allem entfernt zu sein. Wenn ich ihr eigenartiges Verhalten beobachtete, das oft den Grad zur Beleidigung überschritt, fühlte es sich so an, als würde ich meine Eigenarten auf die Welt loslassen, außer dass mir, wenn ich mit Sam zusammen war,
die Zurückweisung der Welt weniger ausmachte, weil wir ja uns hatten. Mir kam sie jedenfalls mutig, fast heldenhaft vor.
»Über was willst du denn schreiben?«
Ein Junge setzte sich neben Sam und unterbrach unser Gespräch. Er war schwarz, hatte eine Baggy-Jeans in gemäßigter Form und ein Tommy-Hilfiger-Hemd an – der typische Stadtlook von Jungs in meinem Alter, nur schicker und aufgeräumter.
»Welchen Radiosender höre ich deiner Meinung nach?«, fragte er mich mit erwartungsvollem Gesichtsausdruck.
Es passierte schon wieder – noch ein Schüler sprach mich an. Ich suchte auch bei ihm nach Gründen dafür und beschloss, dass ich cool wirkte, weil ich neben Sam saß. Es war so, als hätte ich mir von ihrem Auftreten eine Scheibe abgeschnitten.
»Los, rate mal«, forderte er mich noch mal auf.
»Hm, keine Ahnung, ehrlich.« Ich versuchte, total relaxed zu wirken, wie jemand, der immer so ganz nebenbei ein paar neue Freunde fand. »Solche Dinge kann man
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