Als der Tag begann
und drückte auf ein paar
Knöpfe der Fernbedienung. Ein Durcheinander an Gitarrenklängen brach aus den Lautsprechern des Fernsehers hervor. Sam brachte ihren einen Fuß nahe ans Gesicht und pustete mit vollen Backen auf ihre Zehen.
»Cooles Plätzchen hier«, meinte sie. »Der Freund deiner Mom ist wohl fast nie da, was? Und deine Mom schläft den ganzen Tag?«
»Ja, so ziemlich.«
»Klingt super.« Auch wenn es sich nicht gut anfühlte, unter dem Dach eines Fremden zu wohnen und Ma all ihrer Lebensgeister entledigt zu sehen, wusste ich seit einem Besuch bei Sam, warum sie so dachte. Ich bekam weder die Verantwortung für eine jüngere Schwester übertragen, noch musste ich mit einem bedrohlichen Vater auskommen, den sie mir ausführlich beschrieb und in dessen Gegenwart jeder wie auf Eierschalen ging. Ich musste sowieso kaum mit Erwachsenen auskommen, mal abgesehen von den regelmäßigen Terminen bei den Fürsorgebetreuern.
Mit einem Arm auf die Seitenlehne der Couch gestützt, hob Sam die andere Hand an den Hinterkopf und zog mit einem Ruck einen einzelnen Messingstift heraus. Ihr streng gebundener Haarknoten löste sich auf, und ihr hellbraunes seidenweiches Haar fiel ihr in Telefonschnurlocken bis zur Taille hinab. Bunte Gummibänder waren in einen einzelnen dünnen Zopf inmitten ihrer Mähne hineingeflochten. Alle Farben der Gummibänder im Zopf zusammen ergaben die gesamte Palette eines Regenbogens.
»O mein Gott«, staunte ich. »Verdammt, sieh dir deine Haare an! Ich hatte ja keine Ahnung, dass sie so lang sind. Das sieht wirklich toll aus.«
»Die reinste Plage beim Kämmen, das sag ich dir. Mein Dad ist total vernarrt in sie. Wenn er’s so toll findet, sollte er sich seine eigenen wachsen lassen.« Sie löste das untere Ende des Zopfes mit den Fingern auf. Der Duft nach einer Pfirsichhaarspülung stieg mir in die Nase.
Im Fernseher lief ein Nirvana-Video, und Kurt Cobain füllte den Bildschirm aus. »Oh, der ist so was von heiß.« Sam wurde
richtig munter. »O mein Gott, mit dem würde ich’s richtig treiben.«
»Ja … der ist schon ganz süß.« Ich wusste nicht genau, wie ich da mitmachen sollte, Jungs spielten in meinen Gedanken noch keine Rolle. Sie könnten genauso gut größere Varianten weiblicher Wesen sein. Bisher bestand der einzige Unterschied darin, dass ich mich ab und zu dabei ertappte, einen von ihnen länger anzustarren, oder dass ich ein kleines bisschen neugieriger oder beeindruckter von den Dingen war, die sie so machten. Aber ich konnte weiß Gott nicht sagen, ob ich mich jemals schon wirklich zu einem Jungen hingezogen gefühlt hätte. Ich betrachtete aufmerksam Kurts Gesicht, das mit blonden Stoppeln übersät war, während er seine Gitarre mit großer Geste für die Kamera bearbeitete. Dabei überlegte ich mir, wie es sich wohl anfühlen würde, sein Gesicht in die Hände zu nehmen, seine Hand zu halten. Und plötzlich wurde aus seinem Gesicht das von Bobby, der mich mit seinem verschmitzten Lächeln angrinste.
»Ja, stimmt, ich würde sagen, der ist tatsächlich heiß«, pflichtete ich Sam bei. Ich wusste nicht, warum mir das, was ich da von mir gab, so peinlich war. Aber ihrem Gesichtsausdruck nach hatte sie davon nichts bemerkt.
»Gott«, sagte sie und biss sich in die Faust, »du hast verdammt noch mal recht.« Sie drehte die Lautsprecher auf.
»Gib mal her«, sagte ich und griff nach ihrem Nagellack. Mit dem Fläschchen in der Hand befürchtete ich, dass Daddy mich irgendwie von der University Avenue aus hier sehen und mich weibisch finden könnte. Ich schüttelte es mit einer Handbewegung auf und ab, die zu dem nervtötenden Gekrächze der Gitarre passte, dann drehte ich es auf und rief über die Musik hinweg: »Ja, mit dem würde ich’s auch treiben.«
Sam und ich waren jeden Tag zusammen. Unser Bund wurde hastig über Nacht geschlossen, und wir schworen uns, er würde halten, bis wir alte Ladys wären und uns mit Gehwägen in einem Urlaubsort
in Florida durch die Gegend bugsieren würden. In der Zwischenzeit planten wir die nächsten fünfzig Jahre unseres gemeinsamen Lebens. Gleich nach der Highschool würden wir nach Los Angeles trampen, dort zu berühmten Drehbuchautorinnen werden, irgendwann nach San Francisco umziehen, sobald Hollywood langweilig würde, und zwar nachdem wir mehr Geld verdient und mehr Länder bereist hätten, als wir uns je hätten vorstellen können. Unsere benachbarten Häuser befänden sich auf diesem kurvenreichen Hügel, den ich
Weitere Kostenlose Bücher