Als der Tag begann
sie schlief, vor allem Daddy nicht. Er brauchte niemanden, um ihm seinen Tag vorzubereiten, geschweige denn um ihn zu füttern. Der Gedanke an seine Unabhängigkeit sorgte mich ein wenig. Kam er allein gut zurecht? Das Telefon war wieder gesperrt worden, und wir redeten kaum noch miteinander. Mal wollte ich und mal wollte ich es nicht, dass er Bescheid wusste, wie Brick Ma behandelte. Und ich fragte mich auch, ob in erster Linie Daddys mangelndes Interesse, sein Leben voller Geheimnisse, Ma dazu gebracht hatte, sich zu Brick hingezogen
zu fühlen. Aber so hatte sie es sich bestimmt nicht vorgestellt.
Bald darauf verließen Brick und Ma das Haus, er ging zur Arbeit, Ma in die Kneipe, wo man sie mittlerweile so gut kannte, dass sie bedient wurde, bevor die ersten Kunden anklopften und noch während die Gläser poliert und die Barhocker vom Tresen gehoben wurden. Es gab keinen wirklichen Grund für sie, morgens aufzustehen, außer dass Brick sagte: »Jetzt steht man auf«, also stand sie auf. Um die Zeit herumzubringen, ging sie ins Madden’s und trank. Mittags kam sie wieder nach Hause, zu betrunken, um auch nur noch einen vollständigen Satz zu sagen.
Lisa übertraf alle beim morgendlichen Aufstehen, aber es war nicht mehr so wie früher, als sie es gezielt darauf anlegte, mich in die Schule zu treiben. Vielleicht lag es daran, dass wir uns zum ersten Mal einen Raum teilten – das Wohnzimmer –, jedenfalls war Lisa mir gegenüber aggressiver als je zuvor. Sie stichelte nur noch und giftete mich an, selbst wenn ich ihr die einfachsten Fragen stellte.
»Lisa, gibt es noch Klopapier?«
»Ich weiß es nicht, Liz, du wohnst doch auch hier, kannst du nicht selbst nachsehen?« Ich konnte das Gefühl nicht vermeiden, dass ich irgendwie in ihr Hoheitsgebiet eingedrungen war.
Sie richtete sich gegen sechs Uhr morgens her und starrte dabei in den großen Spiegel an der Wohnzimmerwand. Aber anstatt ihr Abbild zu untersuchen oder Grimassen auszuprobieren, näherte sich Lisa ihrem Spiegelbild wie ein Künstler einer Leinwand. Es war eine anmutig aussehende Prozedur, und ich wurde jedes Mal von ihrer Verwandlung überrascht. Sie griff sich ihr zierliches Reißverschlusstäschchen, aus dem sie alle Sorten an weichen Pinseln und Bürstchen hervorholte. Zuerst umrandete sie ihre Lippen, dann füllte sie sie mit einem leuchtenden cremigen Rot. Manchmal, wenn sie mit ihrem neuen Freund ausging, zog sie sich symmetrische, nach oben auslaufende Linien an den Rändern ihrer dunklen Augen, wie bei Kleopatra. Lisas Sehvermögen
war in den letzten Jahren schlechter geworden, hatte sich dann aber stabilisiert und brachte sie dazu, sich so weit vorzubeugen, dass zwischen ihr und dem Spiegel gerade noch Platz genug war für das Utensil, das sie gerade benutzte. Sie verabschiedete sich mit einem strahlenden Blitzen ihrer schimmernden goldenen Kreolen und einer festgegelten Frisur, entweder auf dem Weg in die Schule oder, abends, in ein Leben, das sie sich irgendwo erobert hatte.
In vielen Nächten kehrte sie mit einer verblassten Version ihrer ansehnlichen Kunstfertigkeit nach Hause zurück. Dunkle Farbpigmente lösten sich auf ihren Lidern auf, und mattes Pink verschmierte ihren Mund, wie zerfließende Wasserfarben. Ich wagte es nicht, sie nach den kräftigen rötlich braunen Flecken an ihrem Hals zu fragen, die wie Druckstellen aussahen, sondern ermunterte sie stumm, sich an mein Fußende am unteren Bett zu setzen und mir von ihrem Freund zu erzählen und davon, wie es war, siebzehn zu sein.
»Habt ihr MTV ?«, fragte mich Sam bei ihrem ersten Besuch in Bricks Wohnung. Im Fernsehen wechselte gerade O. J. Simpson in einem Gerichtssaal in Los Angeles die Position seiner übereinandergeschlagenen Beine. Eine Kamera nahm sein Gesicht aufs Korn, als einige neue Beweise enthüllt wurden. Wir schwänzten an diesem Tag Schule. Ich hatte es geschafft, in den letzten zwei Monaten halbwegs regelmäßig anwesend zu sein, also hielt ich es für keine allzu große Sache, zu diesem Zeitpunkt mal ein oder zwei Tage zu fehlen. Lisa war noch nicht zu Hause, und Ma war schon aus der Kneipe zurück und in einen komaartigen Schlaf gefallen, umrandet von einem unglaublichen Haufen Wäsche, Kisten voller Konserven und Stapeln alter Zeitschriften. Wir saßen auf der Couch, und Sam lackierte sich die Zehennägel glänzend schwarz.
»Ich glaube schon, aber du musst selbst nachsehen. Ich hatte noch nie Kabelfernsehen.«
»Nichts leichter als das«, sagte sie
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