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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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einen Knopf drückte, sondern auf mich wartete, damit ich das machte; oder wie sie sich, wenn wir über die Straße gingen, niemals vergewisserte, ob auch kein Auto kam, sondern blind und total vertrauensvoll an meiner Seite mitging. Ein falscher Schritt von mir, dachte ich, und wir werden beide von einem Lastwagen plattgemacht. Alles lag in meiner Hand. Für sie ging das so in Ordnung, und deshalb war es auch in Ordnung für mich.
    Nachts hörte ich sie unter meinem Bett manchmal leise weinen. Aber jedes Mal, wenn ich sie fragte, was los sei, stritt sie es ab und meinte, das läge nur an ihren Allergien oder ich würde mir das einbilden. Aber ich wusste es besser. Manchmal, wenn sie im Schlaf schnarchte — ein lustiger kleiner Pfeifton –, reckte ich mich nach unten und berührte eine ihrer Haarsträhnen, ließ sie durch meine Finger gleiten und sah mit Erstaunen, wie das Mondlicht ihr Haar in der Dunkelheit unseres Zimmers so glänzend werden ließ wie poliertes schwarzes Onyx. Ich werde Sam beschützen, nahm ich mir vor.

    Eines Abends, als ich mir in der Küche ein Glas Wasser holte, kamen aus Bricks Schlafzimmer gedämpfte Rufe. Niemand antwortete ihm, dennoch ging das Gerufe weiter und klang so wie ein Monolog. Ich trat näher ran, und einzelne Worte wurden verständlich.
    »In meiner eigenen gottverdammten Wohnung kann ich noch nicht mal eine saubere Gabel finden … So hatte ich mir das nicht vorgestellt … Wenn du nur oder eine deiner faulen Töchter …«
    Regte er sich gerade über nicht abgespültes Geschirr auf? Überall um mich herum war der Dreck in den Boden eingetreten; total vergilbte Zeitungen lagen im ganzen Zimmer verteilt herum; leere Donut-Schachteln und Chipstüten quollen aus seinem Schlafzimmer, während ich auf dem Weg dorthin einen Hindernislauf rund um seine Vorratskisten vollführte. Dass Brick sich über Unordnung beschwerte, schien absurd.
    Außerdem machte meine Mutter kaum jemals eine Gabel schmutzig. Sie nahm kaum etwas Essbares zu sich, abgesehen von den wahllos über den Tag verteilten Cocktails und ihren Beruhigungsmitteln – sie hatte keinen Appetit mehr. Sogar wenn ich ihr heiße Teller bester Muschelsuppe aus New England auf den Nachttisch stellte (ihre Lieblingssuppe) oder die Rinde von ihrem Thunfisch-Sandwich abschnitt, kamen die Teller unangerührt zurück. Manchmal ließ ich tatsächlich Geschirrstapel stehen, und ich wusste, dass es mein Fehler war. Aber konnte er dafür Ma anschreien?
    Durch einen Sprung in der Tür konnte ich ins Zimmer linsen und sah, dass er schreiend und wie wild mit einer Küchenrolle über Mas erschöpftem Körper herumfuchtelte, während sie bewegungslos, den einen Arm schützend über den Kopf gezogen, dalag. Er hatte nur seine Unterhose und ein weißes T-Shirt an, das sich über seinen riesigen, haarigen Bauch wölbte. Ein Haufen dreckiger Gabeln, die er selbst dort angesammelt haben musste, lag auf dem Nachttisch. Er hob die Küchenrolle mit Schwung über seinen Kopf und meckerte: »Hörst du mir zu, Jean? Hörst du mich?« Als
er mit der Rolle dumpf auf Mas Kopf und Gesicht einschlug, raste ich hinein.
    »Was zum Teufel machst du da?«, schrie ich los. »Sie ist krank … Fass sie …»
    Bevor ich das Zimmer überhaupt richtig betreten konnte, hatte Brick schon die Türklinke in der Hand. »Auf Wiedersehen«, unterbrach er mich und schlug die Tür mit voller Wucht gegen meinen Fuß, sodass die Haut auf meinen Zehen aufplatzte. In mir wallte pure Hitze auf, als ich meinen verletzten Fuß in die Hand nahm und auf einem Bein herumhüpfte. Ich schrie vor Schmerzen fast auf, hielt mich aber um Mas willen zurück. Der schwarze Nagellack war an dreien meiner Zehen abgeblättert, und stattdessen bildeten sich schon rote Blutflecken unter den Nägeln. Bei ihrem Anblick versuchte ich — vergeblich –, nicht in Tränen auszubrechen.
    Das Tragen von Schuhen wäre zu schmerzhaft gewesen. Ich riss den Flurschrank auf und fand ein Paar zu großer Schlappen, zog sie an und stürmte völlig aufgelöst aus der Wohnung. Draußen ging der Himmel gerade von Sonnenuntergang in einen Nachthimmel über. Ich ging einfach die Straße hinunter, unsicher, wo ich überhaupt hinwollte. Beim Vorbeigehen an fremden Leuten drehte ich den Kopf zur Seite, damit sie meine Tränen nicht sahen. Gedanken schossen mir durch den Kopf und rasten in meinem Gehirn umher wie ein Schwarm wütender Bienen.
    Ma durchlebte die Hölle auf Erden, und sosehr ich es auch wollte, ich

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