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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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konnte sie nicht beschützen. Brick war ungeduldig mit ihr, wenn sie gerade Milde nötig hatte, wenn sie jemanden brauchte, der für sie sorgte. Lisa und ich waren für ihn sowieso überflüssig, uns wollte er nicht. Wir waren ganz offensichtlich eine Last. Es war sowieso egal, weil ich nur oft genug die Schule schwänzen müsste und dann ins Heim zurückgeschickt würde und Brick mich damit los wäre. Mr Doumbia wartete schon auf mich, wenn ich alles in den Sand setzte.
    »Du wirst genauso enden wie dein Vater, ein nichtsnutziger Junkie und Penner«, hatte Brick mich mal verhöhnt. An jenem
Tag hatte ich das Klopapier nicht finden können, war mir aber ganz sicher, dass es noch nicht alle war, weil ich eine riesige Vorteilspackung gesehen hatte. Danach schrie er mich an, wir sollten gefälligst spülen, wenn wir zur Toilette gingen, und dann holte er genau diese Packung vom obersten Regal in seinem Schrank herunter. Er hatte das Klopapier versteckt , weil irgendjemand vergessen hatte zu spülen. Ich wusste natürlich schon längst, dass mit ihm irgendwas nicht stimmte, aber damals erkannte ich, dass er genauso verrückt wie Grandma war. Jetzt machte er Ma das Leben wegen ein paar Gabeln zur Hölle, wo es ihr kaum noch viel schlechter gehen könnte. Dieser Mann war ein Kontrollfreak und instabil zudem, und Ma war ihm gegenüber machtlos. Ich musste da einfach weg, weg von ihm, weg von Mas Krankheit. Es war einfach zu viel.
    Es regnete, als ich die Bainbridge Avenue überquerte. Der Wind peitschte gegen meine Jacke, er kühlte mich aus, schien aber ein Feuer auf meinem Fuß anzufachen. Auf dem Bürgersteig schleppten die Leute ihre schweren Aktentaschen nach Hause und hielten ihre Regenschirme fest umklammert. Ich taumelte mit gesenktem Kopf an ihnen vorbei und verbarg meine Tränen.
    Dann traf es mich wie ein Schlag: Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann Ma und ich uns das letzte Mal richtig unterhalten hatten. Alles, was wir uns noch sagten, war »Hi« oder »Bis später«. Unser letztes richtiges Gespräch war ungefähr fünf Monate her, als sie mich in der Junior High School 80 angemeldet hatte.
    Dieser Gedanke sorgte für noch mehr Tränen, keine Chance, sie zurückzuhalten. Bis zu diesem Moment hatte ich mir vorgemacht, dass ich mit ihrer Krankheit besser zurechtkam als alle anderen; und ich war stolz darauf gewesen. Aber wenn man verdrängt, unterliegt man dem Glauben, man mache alle möglichen Fortschritte, auch wenn dem gar nicht so war. Ich dachte, ich hätte mein Leid darüber, dass meine Mutter an Aids erkrankt war, im Griff, aber der Anblick, wie sie hilflos Bricks Wutanfälle ertrug, brachte
alles wieder zurück. Wie bei einem offen liegenden Nerv durchzuckte mich die Realität ihres Krankseins. Über Aids hatten wir in unserer Familie einfach nie geredet. Ma und Daddy sagten nichts dazu, noch nicht einmal Dr. Morales hatte es zur Sprache gebracht, und ganz sicher redete Brick auch nicht darüber. Er sah zu, wie Ma ihre Medikamente einnahm, sah zu, wie sie immer schwächer wurde, stellte aber gleichzeitig immer noch Forderungen an sie. Den Kondompackungen nach zu urteilen, die überall herumlagen, bin ich sicher, dass sie sogar Sex hatten, solange Ma dazu noch in der Lage war.
    Niemand redete über ihr Aids, sogar dann nicht, als es vor unseren Augen an ihr nagte. Es war so gegenwärtig wie der wackelige Boden, auf dem wir mit Brick standen. Mas rapider Verfall und ihre Krankheit, genau wie die Krankheit unseres kollektiven Verleugnens, waren real.
    Einmal, als ich vor zwei Wochen allein in der Küche gesessen hatte, platzte Ma weinend und am ganzen Körper zitternd herein. Sie ging schnurstracks zum Kühlschrank, ohne mich zu bemerken, und griff nach ihrer voluminösen braunen Papiertüte mit Medikamenten, die oben auflag. Ihr unerwartetes Erscheinen und ihre offensichtlich starken Schmerzen hatten mich gelähmt. Ich beobachtete sie dabei, wie sie mit der Kindersicherung eines Verschlusses kämpfte, wagte es aber nicht, sie anzusprechen, aus Angst, sie bloßzustellen. Als das Fläschchen endlich aufging, verteilten sich die Tabletten mit leisen Klickgeräuschen über den ganzen Holztisch. Ma gelang es nur mit großen Schwierigkeiten, zwei davon aufzunehmen. Sie legte sie auf ihre Zunge und unterbrach mit einem tiefen Seufzer ihr Weinen genau so lange, wie sie zum Hinunterschlucken brauchte. Dabei fiel ihr Blick plötzlich auf mich.
    »Ma«, war alles, was ich hervorbrachte, eine völlig

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