Als die schwarzen Feen kamen
den Flur schlüpfte. Nichts regte sich, bis auf das Ticken der Uhr in der Küche. Die Schlafzimmertür stand noch immer leicht offen, genau wie sie sie zurückgelassen hatte. Karin war nicht aufgestanden.
Vorsichtig schob Marie sich durch den Türspalt. Sie wagte nicht, das Licht einzuschalten, um Karin nicht versehentlich zu wecken. Vom Bett drangen leise Atemzüge zu ihr herüber.
» Mama?«, flüsterte Marie. Doch sie erhielt keine Antwort. Ohne dass sie es wollte, stiegen ihr Tränen in die Augen. Kurz entschlossen streifte sie ihre Kleider ab und krabbelte zu Karin unter die Decke. Sie konnte jetzt nicht in ihr Zimmer gehen. Sie konnte einfach nicht allein sein. Die Haut ihrer Mutter war kühl und warm zugleich, als hätte sie jemand mit einem feuchten Tuch bedeckt, unter dem man noch die Wärme ihres Körpers spüren konnte.
» Tut mir leid«, wisperte Marie tonlos. » Tut mir leid, dass ich so lange weg war…« Aber Karin blieb noch immer stumm.
Mit offenen Augen starrte Marie in die Dunkelheit. Ein kleiner Teil von ihr wünschte sich in diesem Moment sehnlich auf Gabriels Sofa zurück. Sie hatte dort so gut geschlafen, so ruhig wie schon seit Langem nicht mehr. Sie wäre gern noch länger bei ihm geblieben. Aber stattdessen hatte sie ihn sogar gebeten, in der Schule auf Abstand zu bleiben. Das schlechte Gewissen zog und zerrte an Maries Eingeweiden. Es nagte an ihr, dass sie Gabriel gegenüber so undankbar war. Doch sie hatte es nicht über sich gebracht, ihm von Theresas Gefühlen für ihn zu erzählen. Vor allem jetzt nicht, nachdem sie sicher wusste, dass Gabriel keinerlei Interesse an ihrer Freundin hatte. Wie Theresa reagieren würde, wenn Marie plötzlich vertraut mit Gabriel umging, das wollte sie sich lieber gar nicht erst vorstellen. Und wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, dann… ja, dann wollte sie ihn auch viel lieber für sich allein haben, ohne dass die hübsche, beliebte, witzige und geistreiche Theresa versuchte, ihn für sich einzunehmen. Denn das würde sie ohne Zweifel. Marie biss sich auf die Unterlippe. Es war besser so. Und Gabriel hatte es akzeptiert. Ob er es auch verstand, konnte Marie nicht sagen, aber sie wollte es erst einmal glauben. Sonst würde sie ja doch keine Ruhe finden. Er würde ihr von nun an helfen und gemeinsam würden sie Karin retten. Das war das Einzige, woran sie jetzt denken durfte.
Allmählich wurde es warm unter der Decke. Wenn Marie die Augen schloss, konnte sie sich zumindest vorstellen, wieder in Gabriels kleiner Dachgeschosswohnung zu sein. In einer entfernten Ecke ihres Bewusstseins erklangen erneut die weichen Töne der Gitarre. Und endlich kam auch ganz langsam ein Nachhall des friedlichen Gefühls von vorhin zurück, wie ein sanfter Finger, der ihr im Halbschlaf über die Wange strich.
Marie seufzte leise und schmiegte sich eng an ihre Mutter. Sie war nicht allein. Jemand war bei ihr und dachte an sie. Das war alles, was für den Augenblick zählte.
Der nächste Morgen begann mit dem schrillen Klingeln eines Weckers, der nicht Maries eigener war. Verwirrt richtete sie sich auf. Doch schon im nächsten Augenblick kehrte wie ein frostiger Zugwind die Erinnerung an die Ereignisse des vergangenen Tages zurück. Marie tastete nach dem Körper ihrer Mutter neben sich. Er lag noch immer genau so da wie zu dem Zeitpunkt, als Marie unter die Decke gekrochen war. Karin hatte sich nicht bewegt.
» Mama… Bist du wach?«
Karin antwortete nicht. Nur ihr flacher Atem war zu hören. Hastig knipste Marie die Nachttischlampe an– und zuckte zurück.
Die Augen ihrer Mutter waren offen, und die Schatten der Feen krochen über ihre Haut. Ihr Blick war stumpf und leer, als würde sie nach innen sehen. Sie schien weder die Berührung zu spüren noch Maries Stimme zu erkennen. Hatte sie etwa die ganze Nacht so dagelegen?
Marie hielt es nicht eine Sekunde länger im Bett aus. Mit rasendem Herzen sprang sie auf die Beine und starrte auf Karin herunter, während sie vergeblich versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Ihre Beine fühlten sich schwach an, und in ihrem Kopf schien ein nasser Schwamm anstelle des Gehirns zu stecken.
» Mama… Karin, jetzt steh auf!«
Marie wusste selbst, wie kläglich ihre Stimme klang und wie nutzlos ihr Betteln war. Ihr war heiß und kalt zugleich vor Angst und in ihrem Bauch begann hilflose Wut zu brodeln.
Aber ihre Mutter rührte sich nicht. Nur die Schatten der Feen waren in Bewegung, zeichneten sich deutlicher als zuvor auf
Weitere Kostenlose Bücher