Als die schwarzen Feen kamen
Leben ihrer Mutter!
Marie räusperte sich. » Sie… sie hatte in den letzten Tagen Schmerzen. Im Brustkorb«, erklärte sie hastig. » Bitte… können Sie überprüfen, ob dort irgendwas ist?«
Der Sanitäter sah sie ernst und mitleidig an. » Vielen Dank für den Hinweis. Solche Informationen sind sehr wichtig.« Seine Kollegen hatte bereits die Trage mit Maries Mutter angehoben. Der Mann wandte sich an Marie, bevor er seinem Kollegen zur Hilfe kam. » Willst du mitfahren? Jemand muss sich ja um die Aufnahmeformalitäten kümmern, und es wäre sicher besser, wenn du nicht allein hierbleibst.«
Marie biss sich auf die Unterlippe. Ins Krankenhaus. Ja, natürlich wollte sie mit– sie würde Karin doch jetzt nicht allein lassen! Aber die Vorstellung, auf einem dieser furchtbaren, sterilen Korridore zu warten, bis ihr endlich jemand sagte, was mit ihrer Mutter geschehen sollte, war einfach grässlich.
In diesem Augenblick griff eine warme, trockene Hand nach ihrer und schloss sich mit festem Druck um ihre Finger. Überrascht sah Marie auf. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass Gabriel neben sie getreten war.
» Dann fahre ich auch mit«, sagte er ruhig. » Ich bin ihr Freund.«
Marie fuhr innerlich zusammen.
Was sagte er da? Ihr Freund! Ein heißes Kribbeln jagte durch ihren Körper.
Der Sanitäter lächelte. » Eigentlich ist es nur Familienangehörigen erlaubt, im Notarztwagen mitzufahren. Aber ich denke, im Führerhaus können wir eine Ausnahme machen.«
Erleichtert klammerte sich Marie an Gabriels Hand, und trotz aller Sorge und Angst um ihre Mutter durchströmte sie ein warmes Prickeln. Ihr Freund! Selbst wenn er das nur gesagt hatte, damit er mitfahren durfte– allein diese Worte aus seinem Mund gehört zu haben, gab ihr das Gefühl, dass alles nicht mehr ganz so schlimm war.
Denn sie würde diesmal nicht allein sein.
Das Krankenhaus war genau, wie Marie es in Erinnerung hatte, obwohl es nun fast zehn Jahre her war, dass sie zuletzt in der Notaufnahme hatte warten müssen. Damals war ihre Mutter bei ihr gewesen, mindestens ebenso verstört wie Marie selbst. Und damals war der Arzt nach den endlosen Stunden, die sie in ängstlicher Ungewissheit verbracht hatten, mit keiner guten Nachricht auf sie zugekommen. Maries Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als sie daran dachte. Sie hatte es nie vergessen. Noch heute träumte sie manchmal davon. Davon, wie ihre Mutter mitten auf dem Flur weinend zusammengebrochen war und dass Marie niemanden gehabt hatte, an dem sie sich festhalten konnte. Was Schädel- oder Rippenfrakturen waren, das hatte sie damals noch nicht gewusst. Aber sie hatte sehr gut begriffen, dass sie ihren Vater von nun an nie mehr wiedersehen würde. Und so hatte sie dort gestanden, mit leeren Händen, die sich so gern an jemanden geklammert hätten, aber es war niemand da. Denn Karin war in diesem Augenblick so tief in ihrer Verzweiflung versunken, dass sie ihre Tochter gar nicht mehr bemerkte. Es hatte Wochen gedauert, bis sie Marie wieder richtig ansah. Erst als die Anfälle begannen. Erst als Marie selbst Angst hatte, zu sterben, nahm ihre Mutter sie wieder wahr.
Marie hatte ihr irgendwann verziehen, weil sie es verstand. Aber vergessen hatte sie es nicht.
Eine Hand berührte ihren Ellbogen. Marie sah auf und bemerkte überrascht, dass sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Arme fest um ihren Oberkörper geschlungen hatte. Sie lockerte den Griff und warf Gabriel, der neben ihr auf einem Stuhl am Rand des Ganges in der Notaufnahme saß, einen dankbaren Blick zu. Diesmal war es anders, dachte sie. Die Feen waren fort und ihre Mutter würde sich sicher bald erholen. Und selbst wenn das Schlimmste eintraf– diesmal würde jemand da sein, um sie festzuhalten.
Eine Tür am Ende des Ganges öffnete sich. Es war die Tür, durch die sie ihrer Mutter nicht weiter hatte folgen dürfen. Ein Arzt trat heraus und kam mit festen Schritten auf sie zu. Marie sprang augenblicklich auf die Füße. Die Miene des Arztes war besorgt, aber Marie sah in seinen Augen keine Schreckensbotschaft. Kein endgültiges Urteil.
Der Arzt blieb vor ihnen stehen. Dr. Bartels stand auf dem Namensschild an der Brusttasche seines Kittels.
» Frau Anders?«
Marie nickte. Es war merkwürdig, dachte sie, plötzlich so förmlich angesprochen zu werden, wie eine Erwachsene. Aber es war besser, als wie ein Kind behandelt zu werden, wie die meisten Ärzte es taten, die sie kannte. So konnte sie sich wenigstens ernst genommen
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