Als die schwarzen Feen kamen
Ohren zuhielt oder die Decke über den Kopf zog. Es war nötig, sagte sie sich selbst immer wieder. Die Stadt brauchte sie. Das hatten die Feen ihr gesagt, und das war sicher die Wahrheit. Am Morgen hatte Lea einem der Straßenkinder das Glas gebracht, in dem die Feen die glücklichen Erinnerungen sammelten. Es hätte, dachte sie, eine frustrierende Vorstellung sein können, dass sie Tag für Tag immer nur einen einzigen Geist aus dem Vergessen zurückholen konnte. Schließlich gab es Tausende von Geistern in der Stadt, und vielleicht hätte Lea in nicht allzu ferner Zukunft wieder aufgegeben.
Die Wirklichkeit aber sah zum Glück anders aus.
Seit ihrem Besuch bei der Weberin, seit sie zum ersten Mal einen Geist von den Erinnerungen hatte trinken lassen und spürte, wie das glühende Herz zu schlagen begann, ging eine Veränderung mit der Stadt vor. So langsam und in so winzigen Schritten, dass Lea sie kaum von selbst bemerkt hätte, hätte der Maskierte sie nicht darauf aufmerksam gemacht. Und doch waren sie da, die Details, die man nur zu leicht übersehen konnte. Wenn man genau hinsah, schienen die Geister, obschon immer noch blass und still in ihrer Gestalt, an Substanz gewonnen zu haben. Ihre Bewegungen waren weniger kraftlos, und die Schatten ihrer leeren Gesichter regten sich, als versuchten sie sich zu erinnern, was es bedeutete, eine Mimik zu haben. Als bemühten sie sich, am Leben wieder teilzunehmen. Dieses Schauspiel, so grotesk und schauerlich es auch war, hatte Lea endgültig davon überzeugt, dass sie das Richtige tat. Ihre Beobachtungen hatten sogar die Bedenken ausgelöscht, die ihr gekommen waren, weil weder die Weberin noch der Straßenjunge durch die Erinnerungen der Feen wieder zu Menschen aus Fleisch und Blut geworden waren. Beide hatten das Glas bis auf den letzten Tropfen geleert und es war Leben in sie zurückgekehrt. Trotzdem blieben ihre Körper seltsam farblos, und ihre Gedanken schienen verwirrt, als könnten sie mit dem neu gewonnenen Leben nicht recht etwas anfangen. Aber Lea glaubte fest daran, dass das nach so langer Zeit als identitätsloser Geist nur normal sein musste. Und allein ein menschliches Gesicht zu sehen, ein Gesicht, das lachen und weinen und ihr in die Augen blicken konnte, bedeutete für sie mehr, als sich mit Worten ausdrücken ließ. Sie wollte mehr davon. Sie würde nicht aufhören, bis alle Menschen in ihrer Stadt wieder bei ihr waren. Und dann…
Vorsichtig drehte Lea sich auf die andere Seite, um ihren treusten Gefährten zu beobachten, der noch immer ruhig schlief. Wenn er wüsste, dachte sie, dass er der einzige Grund war, für den sie alles Leid der Welt auf sich nehmen würde. Er mochte sich dessen nicht bewusst sein, aber Lea hatte sehr wohl bemerkt, dass auch den Maskierten die neue Kraft, die in der Stadt wirkte, nicht unberührt ließ. Unter der Maske, die er trug, solange Lea sich erinnern konnte, zeichneten sich zum ersten Mal seit Jahren wieder schwache Konturen eines Gesichtes ab. Und jetzt, im harten Kontrast zwischen tintenschwarzer Dunkelheit und dem öligen Licht der Laterne, schienen diese Linien sogar noch klarer zu sein. Behutsam streckte Lea die Hand aus und strich eine dunkle Haarlocke von einem hohen Wangenknochen zurück. Mit einem Mal spürte sie den überwältigenden Drang, die Maske zu lösen, sie zur Seite zu nehmen und zu sehen, was sich dahinter verbarg. Sie hatte noch nie gewusst, wie sein Gesicht aussah, nicht einmal, als er noch eines gehabt hatte, und sie hatte auch noch nie zuvor das Bedürfnis verspürt, es zu sehen. Der Maskierte war für Lea immer perfekt gewesen in seinem Geheimnis. Jetzt aber wollte sie ihn nur ein einziges Mal im Schlaf betrachten. Wissen, wer es war, der Tag für Tag und Nacht für Nacht an ihrer Seite blieb. Er musste ja nichts davon erfahren. Nur ein kurzer Blick. Nur ein einziger Moment… Vorsichtig richtete sie sich auf und streckte den Arm aus. Sie spürte, wie ihr Atem flacher ging, als sie mit vorsichtigen Bewegungen versuchte, den Knoten zu lösen, der die Maske an ihrem Platz hielt.
Starke Finger umschlossen ihr Handgelenk. Lea zuckte zusammen. Ihre Wangen begannen zu glühen. Wie dumm sie war, dachte sie. Wie hatte sie auch nur einen Augenblick lang glauben können, er würde nichts bemerken?
Sanft, aber bestimmt zog der Maskierte ihre Hand zurück. Lea holte hastig Luft, um zu einer Entschuldigung anzusetzen– da richtete er sich ebenfalls auf und sah sie an.
Lea verstummte, noch bevor sie
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