Als die schwarzen Feen kamen
auf gar nichts konzentrieren zu können, wenn er es nicht schaffte, sich zu sammeln. Die schneidend kalte Luft ließ seine Augen tränen, als er auf die Straße trat, und er zog den Schal fester um seinen Hals. Ein letztes Mal sah er zu dem kleinen Giebelfenster hinauf. Kurz bevor er aufgestanden war, war die Erschöpfung, die noch immer wie Blei auf seinen Gliedern lastete, einer unangenehmen Unruhe gewichen, gepaart mit dem altbekannten Drang, ein neues Bild beginnen zu müssen. Gabriel wusste, dass das nichts Gutes bedeuten konnte. Etwas geschah auf der anderen Seite, etwas, das er sehen sollte und das vielleicht wichtig war. Aber mindestens genau so dringend war das Gefühl, dass er an diesem Tag unbedingt in die Schule gehen musste– und am Ende hatte es den Zwang zu malen besiegt. Trotzdem ließ die Unruhe ihn den ganzen Weg über nicht los. Statt der üblichen fünfzehn Minuten brauchte er fast eine halbe Stunde, und so kam er am Ende beinahe zu spät, obwohl er ungewöhnlich zeitig das Haus verlassen hatte.
Umso größer war daher seine Verwunderung, als er im beinahe leeren Treppenhaus auf Henrik traf. Henrik war sonst immer der Erste, bei jedem Treffpunkt und in der Schule sowieso– was Gabriel regelmäßig zu spät kam, kam Henrik mit ebenso berechenbarer Regelmäßigkeit zu früh. Heute jedoch wäre er um ein Haar sogar noch später dran gewesen als Gabriel selbst. Verdutzt blieb Gabriel kurz vor dem Treppenaufgang stehen, um auf seinen Freund zu warten, der ihm mit ungewöhnlich schleppenden Schritten den Gang entgegenkam. Als er Gabriel entdeckte, erschien auf seinem Gesicht ein schwaches Lächeln.
» Morgen.«
Gabriel sah ihn fassungslos an. Noch nie hatte er erlebt, dass Henrik so völlig erledigt wirkte– nicht einmal am Morgen nach der Feier zu seinem achtzehnten Geburtstag. Und selbst sein Schatten… Gabriel blinzelte.
» Morgen…«, brachte er gerade noch hervor, ehe Henrik ihn für noch absonderlicher halten konnte als gewöhnlich. Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf in den zweiten Stock, wo sie in der ersten Stunde gemeinsam Geschichte hatten. Gabriel bemühte sich, nicht zu auffällig an Henrik vorbeizusehen. Der schwarz geschuppte Dämonenhund, der seinem Freund folgte, war schon unter normalen Umständen eines der am wenigsten Furcht einflößenden Wesen, denen Gabriel in seinem Leben begegnet war. Heute aber hingen die drei stacheligen Schwänze, die sonst in stetiger, schlängelnder Bewegung waren, schlaff herab, und die langen, scharfen Krallen schabten müde über den Boden. Nur die riesigen Augen glühten in einem wilden Feuer, das Gabriel bei der sonst eher zurückhaltenden Bestie noch nie gesehen hatte. Henriks Schatten war erschöpft– und gleichzeitig wild vor Zorn. Was war da los?
Das beklemmende Gefühl, das Gabriel schon den ganzen Morgen über beschäftigte, rumorte nun noch stärker in seinem Bauch. Aber er zwang sich, sich nichts anmerken zu lassen, und verzerrte seine Mundwinkel mühsam zu einem Grinsen.
» Heute so spät?«
Henrik schüttelte müde den Kopf. » Alex geht es nicht gut«, sagte er, und in seiner Stimme schwang ernsthafte Sorge mit. » Ich war die ganze Nacht bei ihr, aber ich konnte nichts machen. Sie kommt heute auch nicht.«
Gabriel runzelte die Stirn. Alex war seit über zwei Jahren mit Henrik zusammen und ging in ihre Stufe. Gabriel mochte sie sehr, weil sie die Erste gewesen war, die an seinem ersten Tag in der neuen Schule auf ihn zugekommen war, um ihn ohne jedes Zögern in ihren Freundeskreis aufzunehmen. Ohne sie hätte er seine heutigen Bandkollegen und besten Freunde niemals so schnell kennengelernt. Sie war eine lebhafte Frohnatur, die sich durch nichts so leicht aus der Bahn werfen ließ– weder durch schlechte Stimmung noch durch irgendwelche Viren oder Bakterien. Ihr Schatten umgab sie zumeist wie ein flüchtiger grauer Schleier, der sich selten verdichtete, und nur in sehr wenigen Situationen hatte Gabriel bisher den scharfen Schnabel ihrer Harpyie gesehen oder ihr angriffslustiges Fauchen gehört. Es war schwer, sich vorzustellen, dass es Alex wirklich schlecht ging, dafür aber umso leichter nachzuvollziehen, wie sehr Henrik sich deswegen sorgte. » Was hat sie denn?«
Henrik hob erschöpft die Schultern. » Ich weiß es nicht. Es kam ganz plötzlich. Sie sagt, sie fühlt sich schwer, deswegen dachte ich erst an Fieber, aber sie hat keins. Sie will nicht essen, nicht aufstehen… Und sie wirkt auf einmal so traurig. Seit
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