Als die Welt zum Stillstand kam
Stadt zurückbrachten. Oder sich entschlossen, jede Spur dieser Begegnung auszulöschen …
»Ihr lasst mich weiterreiten, damit ich Jasons Spezialauftrag erfüllen kann. Und wenn er sich die Aufzeichnungen der Kameradrohnen anschaut …«, alle vier blickten hektisch in den Nachthimmel, »… werde ich ihm sagen, dass nichts passiert ist. Dass ihr nur eine Kontrolle durchgeführt habt, um die Grenzen der Kommune zu schützen.«
»Und wer garantiert uns …?«, begann der blonde Junge, aber der Zahnlose deutete nach oben und unterbrach ihn: »Halt die Klappe, Murkha!«
Er ließ Celie los und deutete mürrisch auf ihr Pferd. »Ms Haversham, wir wünschen Ihnen noch eine gute Reise.«
Von da an trug Celie die Messer immer griffbereit. Die Nacht war nicht mehr ihr Freund, der sie vor Jasons Blicken und denen seiner Helfer schützte. Sie war zu einem tödlichen Dschungel geworden, in dem sich hinter jedem Schatten eine neue Gefahr verbergen konnte.
Es wurde schon hell, als Celie sich, zu Tode erschöpft, endlich erlaubte, Rast an einem alten Bahnhof zu machen. Das Ortschild fehlte, aber Celie schätzte, dass es bis zu ihrem Haus noch etwa zwanzig Kilometer waren. Sie würde versuchen, einige Stunden zu schlafen, und dann am Mittag weiterreiten, sodass sie das Kranen-Anwesen – wenn alles gut ging – noch vor der Dämmerung erreichte. Und vor Jasons Leuten. Ob sie ihr noch auf der Spur waren? Die Kameradrohnen waren durch den Störsender nutzlos geworden, aber vielleicht gelang es Jason, ihren Weg anhand der Übertragungsstörungen zu verfolgen?
Celie schob diese Gedanken energisch beiseite. Sie konnte es jetzt sowieso nicht mehr ändern.
Bis vor Kurzem hatte in diesem Bahnhof noch jemand gewohnt, wie man an dem frischen Müll hinter dem Gebäude und an den Hängekörben vorm Eingang sehen konnte, in denen gelbe und violette Chrysanthemen blühten. Aber jetzt war er verlassen und irgendjemand hatte alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war.
Celie ging mit dem Messer in der Hand um das Gebäude herum, vergewisserte sich, dass sie allein war, und setzte sich dann auf den Bürgersteig vor dem Bahnhofseingang, wo sie die Umgebung im Blick behalten konnte. Als sie ihren Rucksack öffnete, um ein Stück Brot herauszuholen, fiel ihr etwas entgegen. Eine Mundharmonika.
Celie begann zu weinen. Plötzlich fehlte ihr die Kommune entsetzlich. Olle, Karen, die Kinder, Pietro und, ja, sogar Brigid. Nie hätte sie gedacht, dass ihr diese Menschen so ans Herz wachsen würden.
Als Celie in die Kommune gekommen war, hatte sie kaum etwas mitbringen können. Zu groß war die Gefahr gewesen, sich durch etwas Persönliches zu verraten. Nur eine einzige Sache hatte sie dabeigehabt, die ihr etwas bedeutete: die Mundharmonika, die Alex ihr zum elften Geburtstag geschenkt hatte und die sie seit sechs Jahren überallhin begleitete. Die Mundharmonika hatte sie damals zur Musik gebracht, hatte ihr eine völlig neue Welt erschlossen. Kurz darauf hatte sie begonnen, Klarinette zu spielen, und in den letzten beiden Schuljahren war sie bereits eine gefragte Klarinettistin gewesen, hatte mit verschiedenen Bands überall auf der Welt gespielt und davon geträumt, Berufsmusikerin zu werden. Aber wenn sie Trost gebraucht hatte, war es nicht die Klarinette gewesen, sondern Alex’ Mundharmonika, mit der sie zu ihrem geheimen Platz beim Orangenbaum gegangen war, um Kraft zu schöpfen.
Natürlich, das hier war nicht ihre Mundharmonika. Celie hatte sie, wie alles andere, in der Kommune zurücklassen müssen. Noch einmal in die Stadt zu schleichen wäre wegen der Kameradrohnen völlig loco gewesen. Es musste Seans Mundharmonika sein. Er hatte sie offenbar im Getümmel vor ihrem Aufbruch in den Rucksack gesteckt.
Celie wischte sich die Tränen ab, während die Sonne aufging, nahm die Mundharmonika und spielte ihr Lieblingslied, »Irish Blessing«. Sie spielte es für Sean, der ihr seinen größten Schatz gegeben hatte. Für Olle und Brigid, die weiterkämpfen würden, auch wenn sie ihnen jetzt nicht mehr helfen konnte. Für Eliza, die ihre liebste Freundin gewesen war. Für Karen, die ihr die Augen für das geöffnet hatte, was in der Kommune schieflief. Für alle, die sie zurückgelassen hatte und die sich nun, nicht zuletzt wegen ihr, in großer Gefahr befanden. Und sie spielte das Lied als Ermutigung für sich selbst …
Sie konnte nicht aufhören, spielte immer weiter, wie unter Zwang, weil sie spürte, dass noch jemand fehlte.
Weitere Kostenlose Bücher