Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
meine Freude war groß, wenn mein vierbeiniger Freund nach Schulschluss an der Straßenecke auf mich wartete. Dann ging ich in die Hocke, mein Kater kletterte auf meinen schönen Schulranzen, legte sich der Länge nach darauf, sodass sein Kopf links mit meinem Gesicht Kontakt hatte, der Schwanz hing rechts über meine Schulter, und ein riesiges Schnurrkonzert begann. Oma nahm uns oft an der Straßenkreuzung in Empfang. Wir hatten von der Schule nach Hause einen Weg von etwa sechs Minuten, sie war jedoch besorgt, dass das Gewicht des Ranzens mit dem Kater für mich zu viel sein könnte, was natürlich nicht stimmte.
Schon Anfang des neuen Jahres belauschte ich manchmal Gespräche der Erwachsenen, die besorgt über die Zukunft sprachen. Obwohl man bedacht war, dass ich von allem nichts mitbekommen sollte, spürte ich doch ihre Unruhe. Aber ich hatte ja Seppel, er war mein bester Freund. Soweit ich es im Nachhinein abschätzen kann, muss er etwa 22 Jahre alt gewesen sein. Er war der Cousin meiner Mutter und meiner Tanten. Seine Mutter war die jüngste Schwester meines Großvaters, verheiratet mit einem Handwerker. Die Familie betrieb eine Bau- und Möbelschreinerei, und sie hatten zwei Söhne: Friedhelm, der ältere, und Seppel, der jüngere von beiden. Er hieß eigentlich Joseph, genannt nach Großvater, der sein Patenonkel war. Seppel nannten wir ihn. Immer, wenn er zu uns kam, trug er seine Traditionskleidung: schwarze Cordhose, Weste, weißes Hemd und einen großen, schwarzen Hut. Soweit ich mich erinnern kann, hatte er auch im linken Ohr einen Ohrring. Meine Großeltern und seine Cousinen mochten ihn alle sehr gerne. Wenn er bei uns war, nahm er oft ein Blatt Papier und zeichnete mich, meist sitzend.
Er war immer auf dem Laufenden, was mich und die Schule betraf. Einmal hörte ich ihn zu Großmutter sagen, dass er gehört habe, ich sei die Zweitbeste in meiner Klasse. Ich war gerade im zweiten Schuljahr.
Er konnte so herrlich singen und ging heimlich auf die Musikakademie in Basel. Nur meine Großeltern wussten davon, aber irgendwann kamen seine Eltern dahinter, verboten es und kürzten ihm den Lohn derart, dass er das Studium nicht mehr finanzieren konnte. Das Drama nahm seinen Lauf: Seppel erhängte sich am Rheinufer an einem Baum, seine eigene Mutter entdeckte ihn. Von nun an war für uns die Welt nicht mehr in Ordnung. Es war wie ein Beben, das auch unser Leben aus der Bahn warf. Zunächst begriff ich das Ganze nicht, wie konnte Seppel mir das antun? Und warum überhaupt? Er hatte doch uns, wir waren eine Familie. Eine tiefe Traurigkeit befiel mich, nichts konnte mich aufheitern, nicht einmal meine Mutter, die zur Beerdigung kam. Ich glaube, ich habe nur wenig Notiz von ihr genommen. Selbst das neue Kleid, das sie mir mitbrachte, konnte mich nicht begeistern, zumal Oma mir viel schönere Kleider nähte. Tante Ines meinte bei näherer Betrachtung, dass sie wenigstens den Preis hätte abnehmen können. Was ich brauchte, war Trost. Das Beisammensein mit meiner Mutter war von Unsicherheit und Verlegenheit geprägt, dabei verbarg sich aber in mir eine Sehnsucht nach ihr, nach Zärtlichkeit, die unerfüllt blieb. Es gibt kein Wort, dass das Gefühl ausdrücken kann, das ein Kind empfindet ohne Mutterliebe. Nach ihrer Abreise entstand eine Leere in mir, die nicht zu beschreiben ist. Der plötzliche Tod, das Kommen und Gehen, mir war so, als wäre ein Teil des Himmels eingestürzt. Von nun an sollte sich vieles in unserem Leben ändern.
Wir schrieben das Jahr 1933. Zu dieser Zeit gab es sehr viele Arbeitslose. Die Menschen lebten in Angst, Hunger war an der Tagesordnung. Sehr oft kamen Bettler an die Haustür, Oma kochte ihnen meist eine Suppe und gab ihnen, wenn möglich, noch Wegzehrung mit. Großvater meinte oft, dass Großmutter womöglich nicht mehr genug zu essen für uns im Hause hatte. Solche Tage gab es wirklich, dies wurde mir erst später bewusst, da Großmutter fast ängstlich das Brot abschätzte, ob es für unsere Mahlzeit noch reichte.
Im Grunde lebten wir bescheiden, wir waren zwar immer satt, hatten im Garten alles an Gemüse und viel Obst. Nur Fleisch, fand ich, hätte es öfter geben können. Kartoffeln für den Winter, Äpfel, oft Speck, Geschlachtetes, auch Mehl, das alles bekam Großmutter vom Hof ihrer Eltern. Großvater fuhr im Herbst aufs Land, um auf dem Hof seiner Schwiegereltern zu helfen. Er verschickte von dort Körbe per Bahn, gefüllt mit allem Möglichen, schön bedeckt mit
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