Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
Mal zu Weihnachten. Nun wohnen Gisela Weber und ich zusammen im Augustusweg 22. Gisela ist ebenfalls alleine hier. Ihre Eltern wurden in Rostock ausgebombt. Sie leben nun in Bergen auf Rügen. Vor vier Wochen schon haben sie Gisela nahegelegt, nach Bergen zurückzukommen. Vielleicht wird sie sich dazu entschließen. Bisher aber dachten wir beide, wir könnten hier zusammen unsere Ausbildung beenden.«
»Ich befürchte nur«, meinte Dr. Schmidt, »dass für ein zaghaftes Überlegen nicht mehr allzu viel Zeit bleibt. Jedenfalls wünsche ich Ihnen alles Gute. Wenn ich etwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich wissen. Ihre Entscheidung, Dresden zu meiden, ist jedenfalls ein guter erster Schritt in die richtige Richtung.«
Wohin der Weg uns führen sollte, entschied sich sehr schnell. Giselas Bruder lebte in Berlin-Moabit im Untergrund, wie sie mir kürzlich nach Erhalt eines Briefes von ihm gestand. Er schrieb ihr, sie solle sich unverzüglich auf den Weg zu den Eltern machen. Dabei solle sie auch in Berlin Station machen. Er gab eine Adresse an, wo sie weitere Informationen erhalte. Es sei ein Freund von ihm, bei dem auch ein Übernachten möglich sei. Alles Weitere erfahre sie an Ort und Stelle. Theo, so hieß ihr Bruder, bat um Nachricht an die genannte Adresse, damit er von seinem Freund über ihre Ankunft informiert werde. Gleichzeitig schrieben Giselas Eltern eindringlich, noch bestehe die Möglichkeit, nach Hause zu kommen. Auf alle Fälle sollte sie mich mitbringen. Die Zeit sei kostbar, diese Entscheidung durften wir nicht mehr länger hinausschieben.
Es war schon rührend, wie Giselas Eltern auch um mich besorgt waren, obwohl wir uns gar nicht kannten. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Was sollte ich hier ohne Gisela machen? Warum bekam ich keine Post, weder von Karl noch von zu Hause? Alles brach zusammen.
Gisela drängte nun auf meine Entscheidung. Sie machte mir deutlich, dass ich bei Hedy und Max zwar selbstverständlich herzlich aufgenommen würde, aber was war, wenn den beiden etwas zustieße? Außerdem war sie der Meinung, dass ich mich bei Entscheidungen, die mich betrafen, zu sehr beeinflussen ließ und mich zu abhängig machte von den beiden zwar sehr lieben, doch alten Menschen.
»Wenn sie dich dann eines Tages brauchen, bin ich mir ganz sicher, dass auch du für sie da sein wirst.« Morgen wäre nun die Bedenkzeit, die mir Gisela eingeräumt hatte, verstrichen. Meine größte Überlegung galt aber Karl. Was war, wenn er nicht mehr an die Front musste und mir plötzlich schrieb, ich solle kommen? Zwar hatte ich ihm mitgeteilt, dass Giselas Eltern auf ihre Heimkehr drängten, aber er antwortete nicht. Nun kam der Morgen der Entscheidung. Wozu sollte ich mich entschließen?
Gerade kam Gisela von Frau Rudolph zurück, mit der sie beraten wollte, was sie dazu meinte, wenn Gisela mich mitnähme. Verstört, so schien es mir, und mit Post in der Hand, kam sie zurück und sah mich an. Sie hatte Tränen in den Augen.
»Was ist, Gisela, was ist passiert?«
Sie übergab mir einen gelben Briefumschlag. Ich erkannte meine Handschrift auf dem Brief, adressiert an Karl in das Res. Lazarett Tübingen, abgestempelt am 26.01.1945 in Radebeul. Der Brief war umadressiert nach Weilheim Teck. Vermutlich war er wieder in das Lazarett geschickt oder mitgenommen worden. Es waren von mir zwei Briefe vom 25.01.1945 und dem 26.01.1945 in dem Umschlag, der sich scheinbar gut öffnen ließ und wieder zugeklebt worden war. Auf der Rückseite stand mit Schreibmaschine geschrieben: ›Ist am 30.01.1945 an den Folgen einer schweren Hirnoperation aufgrund seiner Verwundung gestorben.‹ Darunter ein Dienststempel mit Reichsadler und Hakenkreuz. Die Unterschrift war nicht zu entziffern. Dieses Siegel, diese Unterschrift, es nahm mir die Luft zum Atmen. Konnte ich es überhaupt glauben? Sicher musste ich es, begreifen musste ich es auch. Aber was sollte ich begreifen? Karl war tot. Das eine: Karl kommt nicht mehr – nie mehr; das andere: Unser Wiedersehen im Häuschen, unsere Pläne, sie haben keinen Bestand mehr. Um mich schien alles zusammenzubrechen. Nach der Sprachlosigkeit übermannte mich die Verzweiflung. Mit zitternden Händen hielt ich den Umschlag fest an meine Brust gepresst. Bilder zogen an mir vorbei. Ich sah Karl vor mir, wie er mir zulächelte, dann hatte ich jenen Abend vor Augen, als ich ihn zum letzten Mal zur Straßenbahn brachte. Er, winkend, mit einem müden Ausdruck und Trauer in den Augen,
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