Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
überstürzenden Ereignisse könnten wir alle nur hoffen, uns bald und gesund in die Arme nehmen zu können.
Ein Wiedersehen sollte für viele Jahre nicht mehr möglich sein, was man leider vorab nicht erkennen konnte. Die Front rückte immer näher, Panzergräben wurden ausgehoben, das Getöse von schweren Geschützen wurde immer vernehmlicher. Tiefflieger waren an der Tagesordnung, aber das Leben ging weiter, wenn es auch von Tag zu Tag schwieriger und gefährlicher wurde. Stella kam an einem Mittwoch kurz vorbei, sie hatte Lebensmittel besorgt und wollte mich nun fragen, ob ich am kommenden Sonntag mit ihr zur Kirche ginge. Die evangelische Kirche war in der Nähe unseres Instituts, also kein sehr großes Unternehmen. Alleine wolle sie nicht gehen, sagte sie und sah mich bittend an.
»Ich komme gerne mit«, versprach ich Stella, dabei gestand ich ihr auch, dass ich, seit ich in Sachsen war, nicht einmal in einer Kirche gewesen war. Teils aus Mangel an Gelegenheit, teils aber auch, weil weder Familie Weiler noch Max und Hedy Kirchenbesucher waren.
Um neun Uhr sollte der Gottesdienst beginnen, und als ich etwa eine halbe Stunde vor Beginn ankam, stand Stella bereits da und wartete auf mich. Sie fürchtete schon, ich hätte die Verabredung vergessen.
Gerade noch bekamen wir links in der hintersten Reihe zwei Plätze, da füllte sich auch der Rest der Kirche mit stehenden Menschen. Die Besucher standen auf, als der Pfarrer, begleitet von zwei Kirchendienern, die dicke Kerzen trugen, vor den Altar trat. Erst blieb er schweigend stehen, dann begann er:
»Liebe Gemeinde, wir haben uns hier versammelt, um unseren Herrn zu bitten, er möge uns den Frieden schenken. Möge er es verhüten, dass noch mehr Menschen sterben müssen, möge er uns die Kraft geben, was auch noch kommen mag, zu ertragen und andern, die ganz ohne Hoffnung sind, beizustehen.«
Wir sangen Lieder aus dem Liederbuch und hörten Lesungen aus der Bibel. Dann wurden wir aufgefordert, jeder für sich ein stilles Gebet zu sprechen.
Nach unserem stillen Gebet erklang auf einmal eine schöne, helle Frauenstimme mit dem Lied: ›So nimm denn meine Hände und führe mich.‹ Alle, die das Lied kannten, stimmten mit ein, ich auch. Wir fassten uns an den Händen und sangen aus vollem Herzen. Es war bestimmt für alle ein schönes Gefühl, es gab Hoffnung und neuen Mut.
Nachdem der Pfarrer uns seinen Segen gegeben und alles Gute gewünscht hatte, versammelten sich die Menschen vor der Kirche und plauderten noch eine Weile miteinander. Stella und ich standen umarmt, mit Tränen in den Augen, eine ganze Weile, ehe wir sprechen konnten. Dann nahmen auch wir voneinander Abschied, jedoch mit der Hoffnung, uns bald wiederzusehen.
Alle hofften, dass die Amerikaner ihren Vormarsch beschleunigen und unsere Gegend besetzen würden. Täglich hörten Frau Rudolph und ihre Mitbewohner den Londoner Rundfunk. Alles deutete darauf hin, dass es nur noch Tage dauern würde, bis sie bei uns einmarschierten. Hoffnung kam auf, es konnte ja dann nur besser werden, auf keinen Fall schlechter.
Vielleicht ergab es sich sogar, dass ich irgendwann einmal nach Weilheim fahren konnte, um auf Karls Grab Blumen zu legen. Ich wollte ihm so gerne sagen, dass ich in Gedanken und mit dem Herzen immer bei ihm war, ihn niemals vergessen würde.
Unsere Hoffnungen mussten wir schnell begraben. Kurz vor Dresden angelangt, zogen die Amerikaner sich wieder bis Chemnitz zurück, somit wurde uns klar, dass wir den Russen überlassen wurden.
Frau Rudolph fing an, einiges in Kisten zu verpacken, Teppiche wurden zusammengerollt, edles Porzellan in Holzwolle verpackt. Im Wohnzimmer, wo nun ihr Bett stand, war im Fußboden unauffällig aus demselben Holz eine Klappe eingelassen, darunter befand sich ein großer, trockener Hohlraum, der nun als Versteck benutzt wurde. Hier wurde alles verstaut, was Frau Rudolph lieb bzw. den Mitbewohnern wichtig war und im Moment nicht gebraucht wurde. Meines Vaters Geige, die ich schon vor der Reise nach Bergen bei Frau Rudolph gelassen hatte, und Giselas und meine Bücher, in einer Kiste verpackt, wurden ebenfalls hier versenkt. Der große Wohnzimmerteppich überdeckte das eingelassene Türchen, das Bett stand darüber. In diesem Versteck, so meinten die Mitbewohner, sollte auch ich mich die erste Zeit aufhalten, der Raum war sehr groß, und von außen kam frische Luft durch einen kleinen Schacht herein. Darüber wollte ich eigentlich nicht nachdenken, die Angst war
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