Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
schienen eine Ewigkeit zu dauern. In der kurzen Zeit sah ich viele Stationen meines kurzen Lebens an meinem inneren Auge vorüberziehen. Ich dachte daran, wie es danach sein würde. Wie würde ich alles verkraften können? Die Haustüre wurde aufgestoßen aber nicht wie gewohnt zugeschlagen, der Russe stürmte herein, wir wagten kaum zu atmen, da befahl er Ludmila, sie solle den Küchentisch frei machen. Ich bemerkte, dass er ein großes weißes Tuch auf der Schulter hatte, darauf lag – oh Gott, was war das – die Hälfte eines frisch geschlachteten Schweins, das er ächzend auf den Tisch warf. Der Russe kam auf mich zu:
»Du«, er zeigte mit einem Finger auf seinen Mund und radebrechte, »essen, du so!« Er zog mit dem Zeigefinger und Daumen seiner rechten Hand seine Wangen herunter, um verständlich zu machen, wie schmal und mager ich sei.
Ich konnte einfach nur noch stammeln: »Danke, danke!« So bekamen auch die Mitbewohner und Frau Rudolph einiges an Reserven, dank meines von Mangel an Ernährung gezeichneten Gesichtes. Trotzdem hielt ich mich, so gut es ging, verborgen. Die Besatzer gingen hier im Haus ein und aus, holten sich an Gegenständen, was sie gebrauchen konnten, brachten dafür oft etwas anderes mit, womit keiner etwas anzufangen wusste.
Ein einziges Mal erlebte ich, dass Gewalt angewendet wurde. Es war ein Russe aus der Nachbarschaft, es schien, als suche er etwas Bestimmtes. Ludmila und die beiden Damen aus Riga, deren Namen sehr schwer auszusprechen waren und die ich mir nicht merken konnte, waren im ersten Stockwerk in ihrer Wohnung. Frau Rudolph und ich saßen in ihrem kleinen Esszimmer, als die Haustüre geöffnet wurde. Wir hörten an dem Klappern der Stiefel, dass es ein Russe sein musste. Frau Rudolph ging dem Geräusch nach und sah, wie der Russe aus dem Wohnzimmer einen Gegenstand an sich nahm.
Ich hörte sie laut rufen: »Nein, nein, das nicht!« Sie wollte es dem Russen aus der Hand nehmen, dieser jedoch schüttelte sie ab und gab ihr so einen heftigen Stoß, dass sie auf dem Fußboden landete. Frau Rudolphs Jammern ließ mich jede Vorsicht vergessen, ich rannte auf den Russen los und trommelte mit meinen Fäusten auf seine breite Brust, doch dieser lachte nur.
»Komm, komm boxen!« Er hob seine freie Hand, die zu einer Faust geballt war, und wollte ausholen. Ludmila hörte den Krach und kam schnell herunter, sie sprach den Russen ganz ruhig an und ging zu Frau Rudolph, um ihr beim Aufstehen zu helfen, aber alleine schaffte sie es nicht. Offensichtlich bat sie den Russen um Hilfe, dieser aber lachte, tippte sich verächtlich an die Stirn und ging.
Als wir unsere Hausfrau wieder auf den Beinen hatten, redete Ludmila, so gut sie konnte, auf Frau Rudolph ein, sie solle nie mehr dazwischentreten, wenn die Russen etwas mitnahmen, die verstanden da keinen Spaß. Ludmila gab auch zu bedenken, dass wir bisher sehr viel Glück gehabt hatten und im Haus bleiben durften. Sie habe schon von ganz anderen Fällen gehört. Da sie und die Damen aus Riga Russisch sprachen, konnten sie wahrscheinlich bisher das Schlimmste verhindern. Dies sollte man aber wegen Kleinigkeiten nicht aufs Spiel setzen.
»Du hast recht«, stammelte Frau Rudolph unter Tränen, »ich glaube, es war nicht einmal der Gegenstand, um den ich kämpfte, vielmehr war es die Reaktion, als ich den Russen im Wohnzimmer sah, da verließ mich einfach jede Vorsicht.«
Die Versorgung mit Lebensmitteln war weiterhin katastrophal, vor dem Bäckerladen standen die Frauen stundenlang Schlange, teils mit Kindern, die vor Hunger und Angst weinten. Es wurde erzählt, dass die Russen mit Lastern unterwegs waren, unter den wartenden Frauen auswählten und die dann einfach mitnahmen.
Der eine Krieg war zu Ende, aber der andere Krieg war immer noch allgegenwärtig, er hatte nur sein Gesicht gewechselt.
Die Bevölkerung wurde durch Aushänge in Glaskästen vor den Schulen, der Verwaltung oder, wenn vorhanden, an Litfaßsäulen darüber in Kenntnis gesetzt, wie man sich der Besatzung gegenüber zu verhalten habe, welche Anordnungen befolgt werden müssten, wer sich bei der Behörde zu melden habe und vieles mehr. So wurde unter anderem auch bekannt gegeben, dass alle Ausländer, die hier lebten und in ihre Heimat zurückwollten, im Rathaus bei der Russischen Kommandantur vorstellig werden sollten. Jan und Margret van Enders erzählten von dem Aushang, sie wollten sich melden, um so bald wie möglich nach Holland zurückzukehren. Ich bat die
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