Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
wollte ich es auch nicht. So viele Erinnerungen kamen in mir auf, die sich wie ein Film vor meinen inneren Augen abspulten. Als etwa vierjähriges Mädchen bekam ich einen wunderschönen Ball geschenkt. Er kam mir sehr groß vor, war bunt und von leuchtenden Farben. Wochenlang ging ich nicht ohne ihn schlafen. Damals wohnten wir noch an der Hauptstraße, ich spielte auf dem Bürgersteig voller Begeisterung, Autos fuhren zu dieser Zeit ganz selten und wenn, dann mit maximal 30 km/h. Beim Spielen war ich nie besonders vorsichtig. Mein Ball rollte auf die Straße, ich lief ihm nach, direkt vor ein Auto, das im letzten Moment zum Stehen kam. Ins Spiel vertieft hatte ich das Auto gar nicht bemerkt. Als ich mich bückte, wurde mein Ball von einem Fuß gehalten, und nachdem ich aufsah, blickte ich in das Gesicht eines älteren Herrn, der den Ball aufhob und ihn mir lächelnd übergab.
»Na, mein Kind, du musst deinen Ball aber gerne haben. Aber du darfst nicht so unvorsichtig sein! Du hattest eben einen Schutzengel, sonst wäre bestimmt etwas passiert.« Den netten Herrn lächelte ich an, bedankte mich mit einem Knicks, gab ihm das Versprechen, besser aufzupassen, und drückte den Ball ganz fest an mich. Großmutter hatte das Geschehen vom Fenster aus beobachtet, kam ganz aufgeregt auf uns zu, legte ihre Arme um mich, sodass ich mich mit dem Rücken bei ihr anlehnen konnte. Sie stieß ganz aufgeregt eine Entschuldigung aus und bedankte sich außer Atem bei dem älteren Herrn. Er streichelte mir über die Wange und verabschiedete sich mit den Worten:
»Gott möge dich behüten, mein Kind.« Beim Wegfahren bemerkten wir erst, dass eine ältere Dame auf dem Beifahrersitz saß. Beide winkten uns nochmals zu. Großmutter ging mit mir ins Haus. Großvater, der hinter dem Haus im Garten war, wurde gerufen und von Oma mit Tränen in den Augen über das Vorgefallene informiert.
»Aber, Hansli«, sagte er, »was machst du nur für Sachen. Du darfst nicht auf die Straße, das weißt du doch. Sonst machst du uns noch große Sorgen.« »Aber das will ich doch nicht. Ich wollte doch nur meinen Ball retten«, versicherte ich ihm.
Ein andermal wollte ich meinen roten Kater davon abhalten, über die Straße in das gegenüberliegende Feld zu laufen. Mein pelziger Freund ließ sich nicht beirren und lief davon. Ich folgte ihm, stolperte aber und fiel. Mein rechtes Knie war aufgeschlagen und blutete sehr. Heulend ging ich ins Haus zurück und erschreckte Großmutter mit meinem Gejammer.
»Mein Gott, was ist denn da wieder passiert, was hast du denn gemacht?« Tante Miriam, die zu Hause war, legte einen Verband an. Sie konnte das gut, sie wurde als Rot-Kreuz-Schwester ausgebildet, um im Notfall überall helfen zu können. Es hatte Wochen gedauert, bis mein Knie geheilt war, die Narben blieben ein Leben lang sichtbar.
Noch mehr Erinnerungen rief die Musik von Beethoven in mir wach, die ich jetzt zu hören meinte. Es klang wie die Romanze für Violine und Orchester Op.40. Dabei sah ich meine Großmutter vor mir, wir hatten ein Grammophon und einige Schallplatten. Ein Vertreter von einer Plattenfirma kam häufiger und wollte uns Platten verkaufen, was ihm aber nicht sehr oft gelang. An jenem Tag präsentierte er eine Platte von Hermann Löns, Miriam hat sie sich später gekauft. Dann legte er Beethoven auf den Plattenteller, und Oma meinte:
»Ach, wir wollen es für heute genug sein lassen.« Ich bettelte förmlich darum, die Platte anhören zu dürfen.
»Na gut, aber ich glaube, das ist nicht so das Richtige für dich«, meinte der Verkäufer. Genüsslich setzte ich mich auf das Sofa und hörte die Musik. Es klang so wunderschön, wie aus einer anderen Welt. Ich war dermaßen vertieft, dass ich nicht bemerkte, wie das Grammophon abgeschaltet wurde. Die Musik klang in mir weiter, ich wünschte, sie nähme kein Ende mehr. Ich war wie benommen, als Großmutter mich in die Realität zurückholte. Stürmisch bettelte ich sie an, doch diese Platte zu kaufen. Verständnislos sahen mich die Erwachsenen an, bis Großmutter, sichtlich berührt, sagte: »Nun gut, du bekommst diese Platte, bald hast du ja Geburtstag. So sei dies dein Geschenk.« Fast täglich hörte ich mir diese Musik an, ich kannte sie bereits auswendig.
Aus diesem Dämmerzustand erwachte ich, weil ich glaubte, Else sprechen zu hören. Ganz vorsichtig öffnete ich die Augen, schloss sie aber gleich wieder in der Hoffnung, ich hätte mich getäuscht. Doch es war kein Irrtum, es war
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