Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
Militär-Jeep fuhr als Begleitung bis an unser Ziel vor uns her. Dort angekommen, bedankte sich Vater und wir wurden, nachdem wir etwas gegessen hatten, zum Bahnhof gefahren. Mit dem Zug fuhren wir zurück nach Neugraben. Es ging auf Mitternacht, als wir dort ankamen. Vater schlief auch bei Lisa. Am Sonntagmorgen fuhr er nach Fischbek zurück. Lisa sollte mich am Montag zum Bahnhof bringen und die Fahrkarte lösen. Vater hatte sich am Sonntagmorgen von mir verabschiedet. Er musste nun klären, wer den Lastwagen in Neumünster abholte und einiges mehr. Zwar wollte er mich selbst zum Bahnhof begleiten, wenn ich einen Tag später fuhr, aber ich hatte mit Hedy besprochen, dass ich, wenn es klappte, ohne Schwierigkeiten am Montagabend zurück war. Max würde sich informieren, wann ein Zug aus dieser Richtung käme. Er wollte mich mit seinem Fahrrad abholen und den Koffer auf dem Gepäckträger befestigen. So wäre es für mich nicht so anstrengend.
Als Vater mich beim Verabschieden umarmte, gab er mir traurig mit auf den Weg: »Grüße deine Mutter vielmals, wenn du ihr schreibst. Richte ihr aus, dass ich viel an sie denke. Sag’ es ihr aber alleine. Ich befürchte«, fügte er, nachdem er sich wieder gefasst hatte, an, »dass wir uns vielleicht länger nicht sehen können. Die Kriegsereignisse stehen für uns nicht zum Besten. Wie alles enden wird, ist noch nicht einzuschätzen. Fast wäre es mir lieber gewesen, dich bei deinen Angehörigen zu wissen. Aber was ist wichtiger? Entscheide du, ob du in Dresden bleiben oder lieber zurück zu deiner Mutter fahren willst. Auf jeden Fall bekommst du von mir weiter Unterstützung, egal, wofür du dich entschließt. Für alle Fälle habe ich hier ein Sparkassenbuch, auf deinen Namen bei der Dresdner Bank angelegt. Deren Filialen gibt es fast überall. Dies soll aber ein Notgroschen sein, wenn wir längere Zeit nichts voneinander hören. Bei Deschers ist ja auch noch ein Konto, das sie verwalten, für alle Fälle bist du damit eine Weile abgesichert. Verwahre das Buch gut, trage es am besten in einem Beutel am Körper, wenn du unterwegs bist.«
»Du machst mir Angst«, meinte ich zu Vater. Ich war sichtlich schockiert.
»Nein«, beschwichtigte er mich, »das darfst du nicht so sehen. Wir müssen jetzt und hier noch über alles reden. Ganz schnell kann sich alles ändern, dann geht es nicht mehr. Wir können nichts mehr schönreden. Versprich mir, mich wissen zu lassen, wenn du entschieden hast, wohin du gehst, ob zu deinen Angehörigen oder ob du bei Deschers bleibst. Dann sehen wir weiter. Wollen wir noch nicht das Schlimmste befürchten. Lass uns hoffen, dass wir uns gesund wiedersehen.«
Vater sollte mit seinen Befürchtungen recht behalten. Wenn es auch noch Monate dauerte, dann aber passierte plötzlich so viel gleichzeitig, dass man kaum mehr den Überblick behalten konnte.
Zunächst war der Schulbeginn in Radebeul ein Neubeginn, das lenkte ab. Wir bekamen einen Schulausweis mit Foto. Er galt auch als Personalausweis. Chemie- und Bakteriologie-Schule Radebeul, Berufsfachschule. Ausbildungsdauer vom 01.10.44 – 31.03.46.
Es ließ die Ängste vergessen, die sich in mir breitmachten. Man hoffte, dass vielleicht alles nicht so schlimm würde, wie viele hinter vorgehaltener Hand munkelten. Viele Flüchtlinge, die von Osten kamen und mit ihren Trecks weiterzogen, erzählten von Gräueltaten, setzten uns in Angst und Schrecken. Die meisten von ihnen reagierten apathisch und stumpfsinnig. Was konnte denn noch alles kommen? Alleine diese Unsicherheit genügte, uns unfähig zu machen zu disponieren und Entscheidungen zu treffen. Anfang Juni landeten die Alliierten in der Normandie. Dieses Geschehen war zwar noch weit weg, aber bedrohlich. Was, wenn sie bis an den Rhein vorstießen? In erster Linie dachte ich an meine Angehörigen, Großmutter in ihrer Zerbrechlichkeit. Würde das gut gehen? Zum Glück hatte sie Großvater an ihrer Seite. Tante Miriam lebte im Haus mit Onkel Stephan. Tante Nina wohnte in der Nähe, zusammen mit Tante Hilda, beider Männer waren an der Front. Ich hatte Hedy und Max. Hedy pflegte zu sagen, ›schau nach vorn, nie zurück.‹ Ja, aber wo war das Vorne? Gab es das für uns noch?
Der Schulbeginn lenkte von den Ereignissen etwas ab und brachte viele neue Eindrücke.
Wir waren 20 Schülerinnen. Alle wohnten in Radebeul, entweder bei Angehörigen in der Nähe oder in einem gemieteten Zimmer. Sogar aus Ostpreußen waren zwei Teilnehmerinnen
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